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Wohnen mit Unterstützungsplan – ein Stimmungsbild

(fel) Mit der Revision des Behindertengesetzes BehG im Kanton St. Gallen soll ein neues System zur Finanzierung von ambulanten Unterstützungsleistungen beim Wohnen zu Hause eingeführt werden. Im Rahmen eines Pilotprojektes namens WUP wird das neue Wohn-Modell seit zwei Jahren erprobt. Wie sind die Erfahrungen damit? Was bedeutet das für die Klient*innen, ihre Unterstützungspersonen und die Dienstleistungsanbieter?

WUP heißt Wohnen mit Unterstützungsplan. Gemeint ist damit, dass Menschen mit Beeinträchtigung in der von ihnen gemieteten Wohnung selbständig und selbstbestimmt wohnen und, damit das auch gelingt, die nötige Unterstützung von Begleitpersonen bekommen. Mit einer Selbst- und einer Fremdeinschätzung wird herausgefunden, welche Unterstützung die jeweilige Person braucht. Dieses Instrument heißt Unterstützungsplan. 

Die UN-BRK als Motor

Was in Deutschland mit dem IHP (Individueller Hilfeplan) bereits vor 20 Jahren entwickelt wurde, hat in der Schweiz erst mit der Ratifizierung der UN-BRK und dem verbrieften Recht auf selbstbestimmte und unabhängige Lebensführung Fuß fassen können: Hierzulande waren die Kantone Basel-Stadt, Basel-Land, Zug und Luzern die Vorreiterinnen. Aufbauend auf den Erfahrungen der anderen Kantone hat der Kanton St. Gallen 2021 das Projekt WUP lanciert, an dem derzeit 16 Personen aus einer Handvoll sozialer Organisationen teilnehmen. Ab dem 1. Januar 2024 wird das Projekt erweitert: Alle anerkannten Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigung können WUP anbieten, bis die Zahl von 40 Personen erreicht sein wird. Am 5. Februar 2024 wird das Amt für Soziales eine Informationsveranstaltung dazu anbieten. 

WUP als kurzes Intermezzo 

Derzeit machen unter anderem die drei sozialen Organisationen obvita, Workaut und der Felsengrund beim Projekt mit. Sie waren bereit, Red und Antwort zu stehen und Einblick hinter die Kulissen zu gewähren. Bei Andi Hauri, Klient des Felsengrunds, war WUP ein kurzes, aber höchst erfolgreiches und wohl eher untypisches Intermezzo. Der junge Mann, heute Ende 20, war aufgrund einer Autoimmunkrankheit, die bei ihm diagnostiziert wurde, als er 22 Jahre alt war, in eine Alkoholsucht gefallen, die ihm den Boden unter den Füssen wegzog und ihn auch beruflich scheitern liess. Nach einer Alkoholkurzzeittherapie am Spital Wattwil kam er Oktober 2022 freiwillig in den Felsengrund, drei Monate später startete er mit dem WUP in der eigenen Wohnung in Neu St. Johann. 

Schritt in die totale Unabhängigkeit

Für Andi Hauri, der vorher entweder bei seinen Eltern oder in Personalzimmern und Hotels gelebt hatte, war das stationäre Wohnen im Felsengrund ein Schock. „Ich musste mein Bedürfnis nach Rückzug und Privatsphäre komplett hintenanstellen. Ich fühlte mich insbesondere von meiner damaligen Zimmernachbarin massiv gestört. Nie hatte ich meine Ruhe. Aber auch sonst war es nicht das Richtige für mich: Permanent war man mit anderen zusammen, und außer mit dem Personal konnte ich mit niemandem auf Augenhöhe reden“, sagt er. „Es war die Tagesstruktur, die ich in dieser Zeit gebraucht habe, eine sinnvolle Arbeit.“ Als Andi Hauri dann im WUP war, wurde zu Beginn gemäß dem ausgearbeiteten Unterstützungsplan ein Kostendach in Form von 17 Stunden Begleitung pro Monat abgemacht für Unterstützung bei administrativen Arbeiten, Einkaufen, Haushaltführung und Gesundheitsfragen. Aber Andi Hauri konnte sehr schnell auf früher Gelerntes zurückgreifen, so dass er immer weniger Begleitung brauchte. So wagte er jetzt den Schritt in die vollständige Unabhängigkeit und trat Ende November aus dem WUP aus. 

Die Familie als Anker

„Ich brauche wirklich keine Unterstützung mehr. Meine Familie wohnt im Dorf, die Großmutter gerade gegenüber. Unser Zusammenhalt ist sehr groß, und wenn ich Hilfe brauche, sind sie für mich da. Das einzig Schwierige für mich ist das Beamtendeutsch. Da brauche ich einen Dolmetscher“, meint Andi Hauri augenzwinkernd. „Und die steigenden Stromkosten machen mir Sorgen.“ Der Felsengrund hat Andi Hauri zudem das Angebot gemacht, dass er sich in Notsituationen jederzeit melden kann. Für Jasmin Blunier, die Andi Hauri als ausgebildete Sozialbegleiterin vom Felsengrund begleitet, ist die Geschichte mit Andi Hauri eine richtige Erfolgsstory. „Von Anfang an war klar, dass das WUP für Andi eine Übergangslösung ist. Aber dass Andi so schnell wieder auf den eigenen Füssen stehen kann, haben wir nicht erwartet und freut uns außerordentlich.“ Aufgrund der Autoimmunkrankheit ist Andi in einer IV-Abklärung und arbeitet derzeit im Johanneum. Gerne würde er im ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Vielleicht erfüllt sich sein Wunsch sogar: Der Felsengrund klärt derzeit die Möglichkeit ab, ihm einen Inklusionsarbeitsplatz anzubieten. 

Aufwendige Abklärung

Bettina Roth, Anfang 30 und Klientin der obvita, ist seit Januar 2021 im WUP.  Auch sie bringt bereits wertvolle Erfahrung für das selbständige Wohnen in der eigenen Wohnung mit: Jahrelang wohnte sie alleine in der eigenen Wohnung mit punktueller Unterstützung durch die obvita, bevor sie in eine Lebenskrise stürzte, die mehrere Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik nötig machte, und sie dann ins externe Wohnen der obvita und schließlich ins Integrationswohnen kam. Motiviert von der obvita wagte sie den Schritt ins WUP und wurde als allererste Klientin im WUP aufgenommen. Und der erste Schritt war für sie bereits ein großer Schritt: „Das Formular auszufüllen war extrem aufwendig. Das brauchte im Minimum 6-7 Stunden“, sagt sie. „Dann gab es Fragen, die zu weit gingen. Wir haben alle Fragen, welche die Privat- und Intimsphäre betrafen, einfach nicht beantwortet. Und das wurde vom Amt für Soziales dann zum Glück auch respektiert.“ 

Gruppe als Stressfaktor

Bettina Roth bekam dann eine Kostengutsprache für acht Stunden pro Woche. Diese Zeit braucht sie plus-minus: Manchmal ist der Bedarf an Zeit kleiner, manchmal höher. Im Mittelpunkt der Begleitung stehen Gespräche, die sich um Haushaltführung, Finanzen oder Gesundheit drehen. Die Bilanz von Bettina Roth fällt positiv aus: „Ich bin sehr zufrieden. Es läuft gut. Ein Leben ganz ohne Begleitung wäre schwierig für mich. So fühle ich mich sicher“. Die gelernte Gärtnerin kennt auch das klassische stationäre Wohnen aus ihrer Jugend- und Ausbildungszeit und hat, ähnlich wie Andi Hauri, vor allem das Leben in der Gruppe als Stressfaktor erlebt. „Ich genieße es, wenn ich meine Ruhe habe und machen kann, was ich will.“ 

Bescheidene Abgeltung 

Aus der Sicht von Renato Zannol, Sozialarbeiter und Begleiter von Bettina, hat die neue Dienstleistung noch diverse Haken. Zuallererst denkt er dabei an die Entschädigung: „95 Franken pro Stunde für eine Fachperson, das deckt den Aufwand kaum. Bezahlt wird die Zeit, die direkt im Kontakt mit den Klient*innen verbracht wird. Hintergrundleistungen wie Absprachen im Team, Supervision, Fallbesprechungen, das Aufnahmeverfahren inkl. Fragebogen vor Eintritt sind aktuell nicht abgegolten und werden durch andere Angebote quersubventioniert.“ Grundsätzlich sollten sich die Tarife in der Höhe der schon bestehenden IV-Tarife fürs Wohncoaching bewegen, die mit Fr. 140.-- pro Stunde abgegolten werden. „Ein IV-Wohncoaching ist grundsätzlich nicht anspruchsvoller als die Begleitung im WUP. Für uns erschließt sich der große Unterschied nicht“, meint Renato Zannol. Störend sei, dass von den Klient*innen ein Selbstbehalt von Fr. 35.— pro Stunde bezahlt werden muss, falls keine EL-Anspruch besteht. Bei Bettina Roth macht das pro Monat Fr. 250.— Franken. „Ihr Beistand hat sich dann dafür eingesetzt, dass die EL diese Kosten übernimmt. Anderthalb Jahre musste er dafür kämpfen“. 

Zu wenige günstige Wohnungen

Die obvita bekommt viele Anfragen von jüngeren Personen zwischen 25 und 40 Jahren, „die keine Lust auf Wohngemeinschaften, Gruppenabende, Ämtlipläne und Konzepte von oben haben. Sie wollen sich nicht anpassen. Das Einzelwohnen entspricht einem großen Bedürfnis.“ Dem steht aber ein Mangel an günstigen Wohnungen gegenüber: „In St. Gallen gibt es fast keine günstigen Wohnungen mehr, die ein würdiges Leben ermöglichen. Im Schnitt schaue ich mir 3-4 Wohnungen pro Monat an, was sehr zeitintensiv ist.“ Der Übergang von der „Rundumversorgung“ zum Begleiteten Wohnen sei manchmal fast ein „Kulturschock“. „Das Unterschreiben des Mietvertrags ist für viele bereits eine Hürde. Und dann haben viele Klient*innen mit dem oft rauen Ton von Vermietern und Hauswarten Mühe.“ Renato Zannols Fazit: „Wir machen die Arbeit eigentlich gerne. Wir hoffen jetzt einfach, dass bis zur Inkraftsetzung des revidierten Gesetzes die Weichen noch richtig gestellt werden und die bestehenden Rahmenbedingungen angepasst werden: Das Abklärungstool soll schlanker werden, dann muss insbesondere der Tarif angepasst werden und der Wohnungsmarkt muss attraktiver werden. Sonst kommt das WUP nicht richtig zum Fliegen.“

Breite Bandbreite von Bedürfnissen

Noch einmal anders sieht die Situation aus bei Menschen mit Beeinträchtigung, welche die auf Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) spezialisierte Organisation Workaut im WUP begleitet. Insgesamt begleitet Workaut neun Personen; sieben Personen wohnen in der Stadt, zwei Personen am Stadtrand in einer Liegenschaft des Vereins „Inklusives Wohnen“, der ihnen die Wohnungen vermietet. Das Profil der Personen im WUP ist höchst unterschiedlich. „Wir begleiten sowohl Personen mit sehr wenig Unterstützungsbedarf, die nur punktuell eine Begleitung brauchen, als auch Personen, die bis zu 60 Stunden pro Monat Unterstützung in Anspruch nehmen,“ erzählt der Sozialpädagoge Samir Zjakic. 

„Ich will doch nichts kosten“

„Das Spannungsfeld dabei bleibt sich aber eigentlich gleich: Die Selbsteinschätzung weicht oft von der Fremdeinschätzung ab. Das zeigt sich insbesondere beim Ausfüllen des Unterstützungsplans. Wir beobachten, dass Personen mit Unterstützungsbedarf tendenziell weniger Unterstützung in ihrem Alltag als notwendig erachten, weil sie unbedingt selbstbestimmt wohnen möchten. Und wenn wir mit ihnen nicht sorgfältig jeden Punkt reflektieren würden, dann würden viel zu wenige Stunden bewilligt werden.“ Für Samir Zjakic ist die Zweitperspektive ein unerlässlicher Bestandteil des Unterstützungs-Fragenbogens, ohne den man kein Gesamtbild des Unterstützungsbedarf eruieren könnte. Zu schaffen machen würde den Dienstleistungsnutzenden teilweise auch die Kostenrealität. „Für eine Klientin war es sehr hart zu akzeptieren, wie teuer die Unterstützung ist, selbst wenn die EL die Kosten übernimmt. „Ich will doch nichts kosten“, war ihre Haltung. Verständnis für die Kostenrealität aufzubauen, brauchte einiges an Zeit und Einfühlungsvermögen.“

Gute Erfahrungen

Workaut erlebt das WUP-Projekt als positiv. „Es erlaubt, Personen, die in der eigenen Wohnung wohnen möchten, sehr schnell und niederschwellig aufzunehmen. Es ist ein Mittelding zwischen der stationären Platzierung und dem Assistenzmodell, wo die Klient*innen in der Verantwortung der Arbeitgebenden sind. So übernimmt die Organisation so viel Verantwortung, wie nötig ist.“ Für Samir Zjakic ist das A und O für das Gelingen von WUP – neben der Selbstbestimmung der Klient*innen -eine gute Zusammenarbeit zwischen der Klientin, dem allfälligen Beistand/den Angehörigen und den Sozialpädagog*innen. Nach Möglichkeit wenden sie sich auch an die Sozialberatung der Pro Infirmis, die z.B. bei finanziellen Fragen wie Hilflosenentschädigung oder EL über viel Know-how verfügt. „Bis jetzt machten wir gute Erfahrungen mit dem WUP und wir sind froh, dass wir beim Projekt mitmachen können.“ 

Sparübung befürchtet

Angesprochen auf den Tarif von Fr. 95.— pro Stunde für die Fachpersonen meint Samir Zjakic: „Das Geld, das reinkommt, ist vielleicht ausreichend für die direkte Begleitung. Es kommen ja aber noch andere Auslagen wie Spesen, Infrastruktur- und Organisationskosten usw. dazu. Es bräuchte also eine saubere Kostenanalyse.» Eine andere Frage, die sich für ihn stellt, ist, über welches Profil das benötigte Personal verfügen muss, damit es Menschen mit Unterstützungsbedarf professionell begleiten kann. „Was mich persönlich vor allem beschäftigt, ist die Frage, ob es auch in Zukunft möglich sein wird, Personen mit einem hohen Unterstützungsaufwand ins WUP zu nehmen. Ich bin nicht sicher, ob eine Person mit einem Bedarf von 60 Stunden Unterstützung pro Monat noch Zugang zum WUP haben wird, wenn der Kanton mit der Gesetzesrevision in erster Linie sparen will. Außerdem können Menschen im Autismus-Spektrum große Schwankungen haben im Unterstützungsbedarf. Solche Themen müssten im neuen Gesetz ebenfalls aufgefangen bzw. abgebildet werden können.“

Begriffe wie „stationär“ und „ambulant“ überwinden

Marco Dörig, Präsident von INSOS SG-AI, begrüßt das weitere Vorantreiben von durchlässigen Angeboten für Menschen mit Unterstützungsbedarf sehr. „Insbesondere setzen wir uns dafür ein, dass nicht mehr in den Schemata von “stationär“ und „ambulant“ gedacht wird. Zentral für uns ist immer der Bedarf der Menschen – diesen wollen wir mit unseren Dienstleistungen erfüllen. Unsere Branche arbeitet bereits heute intensiv auf diesem Gebiet mit den unterschiedlichsten Angeboten wie Integrationswohnplätze, Aussenwohngruppen, kollektives Einzelwohnen, Wohnen für Lernende und wird sich durch neue Angebotsmöglichkeiten noch spezifischer dorthin bewegen.“

Betriebswirtschaftlich korrekte Abgeltung der Leistung

Für INSOS SG-AI ist es wichtig, dass die Angebote präzise beschrieben werden und der Tarif demensprechend betriebswirtschaftlich korrekt ist im Sinne von selbsttragenden Dienstleistungen. Weiter soll die Durchlässigkeit vom kollektiven Wohnen zum Einzelwohnen und auch zurück möglich sein - je nach Bedarf der Person. Marco Dörig: „Übergeordnet stellt sich die Frage, was die UN-BRK verlangt und wo man bei der Umsetzung Abstriche macht. Dürfen alle Menschen vom Einzelwohnen profitieren oder sind es „nur“ jene mit einem tiefen Betreuungsbedarf? Unsere Aufgabe ist es, uns für gute Rahmenbedingungen einzusetzen, damit alle Menschen mit Unterstützungsbedarf in unserer Gesellschaft gleichwertig partizipieren können.“