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Sexualität soll kein Tabu-Thema bleiben

(fel) Obwohl mehr Frauen als Männer mit einer Behinderung in der Schweiz leben und sie sich mit mehr Benachteiligungen auseinandersetzen müssen als die Männer mit einer Behinderung, wird das Thema Frauen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft als Nebensache behandelt. Dafür, dass das anders wird, setzt sich Selma Mosimann ein. Die 33-Jährige hat eine Cerebralparese, arbeitet im Quimby Huus in St. Gallen, lebt selbständig und ist Vorstandsmitglied bei avanti donne.

avanti donne ist seit 20 Jahren die Interessenvertretung von und für Frauen und Mädchen, die mit einer Behinderung leben. Ihr Ziel ist die Gleichstellung und die diskriminierungsfreie gesellschaftliche Teilhabe aller Frauen und Mädchen, ungeachtet ihres Alters sowie der Art und Schwere ihrer Beeinträchtigung. So steht es auf der Homepage. Selma, du bist seit kurzem Vorstandsmitglied bei avanti donne. Kannst du uns sagen, was dich motiviert hat, bei avanti donne mitzuarbeiten?

Ich war schon als Jugendliche Mitglied von avanti donne, weil ich es eine gute Sache finde. Es ist die einzige Organisation in der Schweiz, die sich für Frauen mit einer Behinderung einsetzt. Ich bin seit der Geburt mit dem Thema Behinderung konfrontiert und will meine Lebenserfahrung, die davon geprägt wurde, einbringen. Als ich realisiert habe, dass ich auf Frauen stehe und lesbisch bin, war das der Auslöser dafür, mich politisch zu engagieren. Dabei geht es nicht einmal primär um die LGBTQ-Bewegung, sondern generell darum, dass Frauen und generell Menschen mit einer Behinderung immer noch oft als asexuelle Wesen wahrgenommen werden, ganz unabhängig davon, als was sie sich fühlen und von wem sie sich angezogen fühlen. Ich will mich dafür einsetzen, dass wir sichtbar werden und unsere Sexualität kein Tabu-Thema bleibt.

Kannst du mir sagen, was das konkret für deine Arbeit bei avanti donne bedeutet?

Ich bin noch zu neu bei avanti donne, als dass ich jetzt schon etwas dazu sagen könnte. Wichtig ist, dass man dem Thema Geschlechtsidentität mit Offenheit und Sorgfalt begegnet. Nur weil jemand wie eine Frau aussieht, heisst das nicht, dass sie sich auch als Frau fühlt und als Frau angesprochen werden will. Das setzt beim Gegenüber sehr viel Bewusstheit voraus und einen Willen, mit ihm achtsam umzugehen. Und das sollte doch eigentlich im Behindertenbereich selbstverständlich sein.

Was unternimmt der Verein, um sich für eine bessere Teilhabe von Frauen, Mädchen bzw. non-binären Personen mit einer Beeinträchtigung einzusetzen?

avanti donne lehnt die AHV-Revision, die auf dem Buckel der Frauen ausgetragen wird, klar ab. Es gibt ja nicht nur IV-Bezügerinnen, für die sich nichts ändert, sondern viele Frauen mit Behinderung arbeiten in Teilzeit oder haben eine schlecht bezahlte Arbeit, so dass die Renten tief sind und oft in Altersarmut führen. Arbeiten mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit ist anstrengend. Jedes zusätzliche Jahr im Arbeitsmarkt ist eine Belastung, und zwar unabhängig vom IV-Bezug. Ein anderes wichtiges Thema ist das Thema Zugänglichkeit. Wir kämpfen für einen besseren Zugang zu allen Beratungsstellen, ganz unabhängig vom Geschlecht und Thema Behinderung; und wir setzen uns dafür ein, dass Frauenhäuser zugänglich sind. In der Deutschschweiz gibt es ein einziges rollstuhlgängiges Frauenhaus, und zwar in Chur.

Das EBGB hat 2013 einen Bericht zur Gleichstellung von Frauen mit Behinderung in Zusammenarbeit mit avanti donne herausgegeben. Seither sind fast 10 Jahre verstrichen. Was wurde aus Sicht von avanti donne bisher erreicht?

Spontan fallen mir zwei Dinge ein: Zum einen nehmen viel mehr junge Frauen – mit oder ohne Behinderung - am Frauenstreik teil, was mich optimistisch stimmt, und es wird immer selbstverständlicher, dass der Frauenstreik divers ausgerichtet ist.  Das heisst u.a. auch, dass mehr Frauen mit einer Behinderung eine Rede halten oder dass es Gebärdendolmetscher*innen gibt. Das Thema Diversity trägt auch dazu bei, dass Frauen mit einer Behinderung als Fachpersonen miteinbezogen werden. Dann mache ich selbst die Erfahrung, dass es im medizinischen Bereich teilweise Fortschritte gibt. Und was erfreulich ist, dass es auch immer mehr junge Frauen mit einer Beeinträchtigung gibt, die sich politisch engagieren.

Der Kanton SG hat eine Revision des Behindertengesetzes in Angriff genommen. In diesem Sommer fanden zwei Kickoff-Veranstaltungen dazu statt. Eingeladen waren zum einen die Leistungserbringenden und zum andern Selbstvertreterorganisationen bzw. Leistungsnutzenden. Du warst als Vertreterin von avanti donne beim zweiten Kickoff auch dabei. Wie hast du den Kickoff erlebt?

Ich habe den Austausch mit den anderen Selbstvertreter*innen als sehr bereichernd und lehrreich erlebt. Viele waren dabei, wo man spürte, dass sie wissen, wie sie ihre Anliegen einbringen müssen und viel politische Erfahrung mitbringen. Dann gab es eine grosse Verbundenheit unter den Leuten, obwohl man sich vorher nicht unbedingt kannte. Wichtig war auch, dass sich zum Schluss noch kritische Stimmen meldeten. Kritisiert wurde, dass es zuerst für die Leistungserbringenden einen Kickoff gab und erst dann für die Selbstvertreterorganisationen statt umgekehrt. Oder dass es nicht reicht, in einer Begleitgruppe beratend dabei zu sein, ohne dass man richtig mitentscheiden kann.

Wie kann erreicht werden, dass die Gleichstellung von Frauen als Thema ernst genommen wird und bei der Prioritätensetzung im Kontext der Gesetzesrevision nicht aus dem Blickfeld verschwindet?

Das ist eine schwierige Frage. Grundsätzlich müsste sichergestellt sein, dass Betroffene, einschliesslich der Frauen, sich aktiv am Prozess der Gesetzesrevision beteiligen können. Mit einer Einladung zur Teilnahme an einer Kickoff-Veranstaltung ist es aber nicht getan. Damit die Anliegen der Frauen tatsächlich in der Gesetzesrevision berücksichtigt werden, braucht es genügend Ressourcen für die Partizipation. Dies könnte zum Beispiel dadurch erreicht werden, dass im Projektteam auch Frauen mit einer Behinderung vertreten sind.

INSOS SG-AI hat einen UN-BRK-Aktionsplan für die Jahre 2019-2024 erarbeitet und ist dran, verschiedene Massnahmen umzusetzen. Im Aktionsplan gibt es kein spezifisches Ziel, das den Gender-Aspekt (UN-BRK-Art. 6) aufgreift, sondern ihm soll als Querschnittsthema bei allen Handlungsfeldern, Zielen und Massnahmen besondere Bedeutung geschenkt werden. Wo sollte der Verband ansetzen? Welches sind aus deiner Sicht die vordringlichsten Themen?

Die Themen Gewaltprävention und Sexualität sollten noch mehr gefördert werden. Auf dem Papier gibt es zwar vieles. Aber die Sensibilisierung muss auf allen Seiten verstärkt werden. Die Frauen müssen besser über ihre Rechte informiert sein. Und Menschen mit einer Beeinträchtigung, und zwar ganz unabhängig von ihrem Geschlecht, müssen auf selbstverständliche Weise als sexuelle Personen wahrgenommen werden. Das bedeutet z. B., dass es in einem Wohnheim im Minimum ein Begegnungszimmer gibt. Besser wäre aber natürlich, dass alle, die ein Doppelbett in ihrem Zimmer wollen, auch eines aufstellen dürfen. Aber dazu sind die Zimmer oft zu klein.