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Mit oder ohne Künstliche Intelligenz gibt es viel Verbesserungspotenzial

(fel) Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird auch in unserer Branche zunehmend zum Thema. Valentin Meichtry, Vorsitzender der Geschäftsleitung der OdA GS SG, AR, AI, FL, sieht darin mittel- und langfristig ein grosses Potenzial. Im Bereich der Bewirtschaftung der Klientendossiers gibt es wegen des Datenschutzes aber fast unüberwindbare Hürden, KI einzusetzen und damit dem Fachkräftemangel wirksam zu begegnen. Verbesserungspotenzial gibt es mit oder ohne KI trotzdem bei vielen Prozessen und Themen. 

In Zusammenhang mit dem Thema Fachkräftemangel gibt es viele Hebel, mit denen man etwas bewirken kann. In unserer Branche wäre einer davon, dass man den grossen administrativen Aufwand des Personals reduziert. Du hast deine Masterarbeit* zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) im Bereich Soziale Arbeit geschrieben. Wie könnten wir denn die KI nutzen, um das Personal zu entlasten?

Valentin Meichtry: Es gibt viele Bereiche, wo die KI uns im administrativen Bereich Arbeit abnehmen kann – ich denke da ans Schreiben von Berichten, ans Marketing, wo man mit von KI generierten Textbausteinen arbeiten oder Bilder und Videos optimieren kann oder an die Verbesserung von Schnittstellen, so dass das manuelle Übertragen von Daten von einem System in ein anderes System entfällt. KI eignet sich vereinfacht gesagt vor allem dort, wo es um repetitive Tätigkeiten geht.

Die von dir genannten Beispiele betreffen in unserer Branche vor allem Aufgaben in der Verwaltung. Im Bereich der Klienten-Dokumentationen fallen von Jahr zu Jahr immer mehr administrative Arbeiten an, so dass weniger Zeit bei der Begleitung und Unterstützung der Klient*innen zur Verfügung steht. Wenn man hier Zeit sparen könnte, bräuchte es allenfalls weniger Personal bzw. stünde mehr Zeit für den direkten Kontakt mit den Klient*innen zur Verfügung, was die sozialen Berufe wieder attraktiver machen würde. Wie könnte man hier die KI nutzen?

Valentin Meichtry: Grundsätzlich gibt es fast keinen Bereich, wo sich die KI nicht nutzen lässt. Aber im Kontext von Klienteninformationssystemen gibt es einen Aspekt, der sehr heikel ist und besondere Sorgfalt verlangt: der Umgang mit sensiblen und schützenswerten Personendaten. Dort muss enorm aufgepasst werden, was wem wo zugänglich gemacht wird. Das neue Datenschutzgesetz, das Anfang September in Kraft gesetzt wurde, impliziert bereits höhere Anforderungen als bisher und mit der KI wird der Schutz der schützenswerten Personendaten um einiges komplizierter werden. 

Grosse Organisationen in unserer Branche benutzen die Datenschutzsoftware SIDAS. Dann müsste dieses Tool auch diesen Aspekt abdecken können?

Valentin Meichtry: Ich kenne dieses Tool nicht. Aber zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich die Gewährleistung von Datenschutz und Verwendung von KI als sehr herausfordernd, speziell in Bezug auf die Sozialbranche aufgrund der besonders schützenswerten Personendaten. Alle relevanten Lösungen, welche die KI betreffen, stammen nicht aus der Schweiz und somit ist die Gewährleistung der Sicherheit durchaus anspruchsvoll. Und ein Faktor, der immer kritisch ist und kritisch bleiben wird, ist der Faktor Mensch, der Anwender. Das System kann noch so perfekt sein, gegen Fehler der Anwender*innen ist man nicht gefeit. Es gibt keine 100%-ige Sicherheit, und die Frage ist dann, wie gross die Toleranz gegenüber Fehlern ist. 

Diese Problematik gibt es ja nicht nur in unserer Branche, sondern betrifft wohl alle Klienteninformationssysteme. Das heisst, du kennst keine Tools mit KI, die du uns für diesen Bereich empfehlen kannst, weil uns wegen dem Datenschutz Grenzen gesetzt sind? 

Valentin Meichtry: Nein, mir ist nichts bekannt. Aber man muss sich bewusst sein, dass heute vieles KI genannt wird, aber nicht KI ist. Oft meint man damit lediglich automatisierte Entscheidungsbäume, also einfache Chatbots, die je nach Thema schon einiges beherrschen. Was die Sache zusätzlich erschwert, ist, dass oft jede Organisation ihr eigenes Klienteninformationssystem hat, so dass es dann wiederum individualisierte KI-Softwarelösungen braucht. Das heisst, es braucht immense Investitionskosten, um die Schnittstellen und Implementierung gewährleisten zu können. Derzeit lohnt sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis für individualisierte KI-Softwarelösungen noch nicht. Und dann müsste natürlich auch das Fachpersonal geschult werden, damit sie über das nötige Know-how verfügen, um mit diesen Tools arbeiten zu können. Alle Tools sind so gut, wie die Anwender*innen sie bedienen können. 

Weisst du von Betrieben im Sozialbereich, die schon Erfahrungen mit KI-basierten Tools bez. anderen Themen haben?

Valentin Meichtry: Nein, aktuell ist mir kein Betrieb bekannt, der KI aktiv nutzt. Der Sozialbereich gehört zu den konservativen Branchen, die nicht sehr IT-affin sind. Je staatsnaher zudem die Organisationen sind, desto weniger innovativ und zukunftsorientiert können sie sein, weil die staatlichen Organe besonders restriktiv sind und noch länger brauchen, bis sie auf neue Entwicklungen reagieren. Dann sind natürlich auch die finanziellen Ressourcen im Sozialbereich beschränkt. Es lohnt sich also abzuwarten, bis gute Softwarelösungen in der Privatwirtschaft entwickelt und etabliert sind, damit man sie dann kostengünstiger übernehmen und adaptieren kann. Ich bin aber sicher, bis in 3-5 Jahren stehen uns gute Tools zur Verfügung. 

Das alles tönt für den Moment eher desillusionierend.

Valentin Meichtry: Ja und Nein. Die Entwicklung geht ja rasant vorwärts. Es ist anzunehmen, dass ein Software-Anbieter wie Open AI, bei dem Microsoft beteiligt ist, die KI grundsätzlich in die Programme Word, Excel, Powerpoint oder Outlook integrieren wird. Das kann sehr schnell gehen. An der Stelle möchte ich gerne betonen, dass wenn man nur schon die bereits existierenden technischen Möglichkeiten der vorhandenen Tools voll ausschöpfen würde, man vieles optimieren und Zeit sparen könnte. Es wird grundsätzlich zu viel digitalisiert, nur wegen der Digitalisierung, weil es attraktiv gegen aussen wirkt, ohne dass es die Prozesse besser und effizienter macht. Das kostet und erzeugt oft Doppelspurigkeiten. Mehr ist nicht besser. Es ist zudem durchaus möglich, ohne KI Software-Lösungen zu entwickeln, mit denen man z.B. automatisierte massgeschneiderte Textbausteine im Berichtwesen generieren kann. Denkbar wäre auch, institutionsübergreifend entsprechende Pilotprojekte aufzugleisen, wo man zusammenspannt, um die Finanzierung neuer Software-Lösungen gemeinsam zu stemmen, falls es solche nicht schon gibt. Wir in der Ostschweiz gehören in der Regel nicht zu den Vorreitern bei neuen Entwicklungen. Vielleicht ist man in anderen Kantonen schon weiter, wo man von deren Know-how profitieren könnte. 

Du hast vorhin gesagt: Im Sozialbereich tut sich das Personal teilweise schwer mit technischen Neuerungen im Bereich IT. Wir hinken oft den Entwicklungen etwas hinterher. Wir kann man am besten mit möglichen Widerständen umgehen?

Valentin Meichtry: Eine authentische Kommunikation und Sensibilisierung für Sinn und Zweck eines IT-Systems sind unabdingbar. Generell wichtig ist, dass man, wenn man z.B. ein entsprechendes Projekt aufgleist, die Betroffenen einbezieht. Das erhöht die Akzeptanz auch bei der erfolgreichen Implementierung im Nachhinein. Man könnte auch eine Umfrage bei den Mitarbeitenden machen, um herauszufinden, welche Wünsche, Bedürfnisse und Ansprüche sie haben. Gleichzeitig gibt es auch genau hier ein Potenzial, die Attraktivität gewisser Berufe wieder zu steigern. Wenn dank KI der administrative Aufwand sinkt, kann sich das Personal wieder besser ihrem Kerngeschäft widmen, dem Kontakt mit Menschen, sei das im Sozial- oder im Gesundheitsbereich. Und je innovativer ein Betrieb ist, desto besser sind die Voraussetzungen, im Wettbewerb der guten Talente gerade bei den jüngeren Generationen zu punkten und diese an sich zu binden.

Wenn du schätzen müsstest, um wie viel Prozent der administrative Aufwand gesenkt werden könnte, was würdest du sagen? 

Valentin Meichtry: Das wird von vielen Faktoren beeinflusst: Je nach Möglichkeiten einer Software, dem Fachwissen der Anwender*innen, den Schnittstellen mit den Ämtern und der Bewältigung der heiklen Punkte wie den Vorgaben des Datenschutzgesetzes würde ich sagen 20-30 %, wenn man die KI bzw. entsprechende Tools konsequent anwendet, bis sogar gegen 80 % auf einzelnen Gebieten. Klar ist, dass sich das Entwicklungstempo generell weiter erhöhen wird, und jede Organisation agil werden bzw. bleiben muss, damit sie mithalten kann. Je grösser eine Organisation ist, desto mehr lohnen sich automatisierte Prozesse. Und je besser ausgebildet das Personal ist, mindestens die sogenannten Key User, desto höher ist die Effizienz, und damit verbessert sich auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis. 

Ohne Agilität der Arbeitgeber geht heute gar nichts mehr.

Valentin Meichtry: Die Entwicklung wird zweifelsohne disruptiv sein: Es wird nicht nur neue Berufe geben, neue Tätigkeiten und neue Problemfelder, sondern es werden auch Berufsfelder verschwinden. Gerade wir hier in der Schweiz, wo die Löhne sehr hoch sind und oft den grössten Ausgabeposten darstellen, stehen unter einem hohen Druck, die Lohnkostentief zu halten, um international konkurrenzfähig zu bleiben, was man mit KI-basierten Lösungen bis zu einem gewissen Grad kompensieren kann. Das wird auch negative Auswirkungen haben: die Integration von Menschen mit einer Beeinträchtigung im ersten Arbeitsmarkt wird erschwert werden, weil die einfachen, sich wiederholenden Tätigkeiten eliminiert werden und Automatisierungen günstiger sind. Das birgt ein grosses Gefährdungspotenzial, ist aber nicht zu vermeiden, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen. 

Die OdA GS SG, AR, AI, FL unternimmt bereits einiges im Berufsmarketing, was ein anderer wichtiger Pfeiler im Kampf gegen den Fachkräftemangel darstellt. Dazu gehören z.B. auch Weiterbildungen für das Personal im Bereich Social Media.

Valentin Meichtry: Ja, bez. dem Fachkräftemangel sind wir als OdA gefordert, einen Beitrag auf der Schiene des Berufsmarketings zu leisten. Wir tun das unter anderem auch damit, dass wir gesellschaftlich relevante Themen, die unsere Aufgabe betreffen, aufgreifen. So wollen wir im Bereich Social Media und Digitalisierung für unsere Mitglieder eine Türöffner-Funktion übernehmen und sie auf eine niederschwellige Weise an neue Themen heranführen. Wir sind dran, eine Weiterbildung zum Thema Chat GPT im Jahr 2024 zu planen, die sich an Geschäftsleiter*innen, Marketingverantwortliche und Ausbildungsverantwortliche richtet. Die Vernetzung ist uns sehr wichtig, und wer weiss, vielleicht ergibt sich aus dem Wissenstransfer eine Initiative, wo nachher womöglich Teilnehmende gemeinsam an einer Lösung für irgendeine Fragstellung tüfteln wollen. Dann bieten wir einen Kurs an zum Thema, wie man die Generation Z besser verstehen kann. In einem anderen Angebot geht es darum, wie man die sozialen Medien zum Beispiel bei der Rekrutierung von neuem Personal besser nutzen kann. Dass wir einen Nerv der Zeit treffen, sieht man daran, dass wir sogar Anfragen von Personen aus anderen Kantonen haben, die sich für die Kurse anmelden. 

Handlungsempfehlungen zur Anwendung von Künstlicher Intelligenz bei Klienteninformationssystemen innerhalb der Sozialen Arbeit, 2021, FHS OST 

Hinweis: Die IG digital führt am Montag, 9. Oktober, 2023, in Goldach eine Veranstaltung zum Thema «KI – Chancen und Risiken» durch. Siehe Veranstaltungskalender im Newsletter September 2023..