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Im Luzerner Gesetz wird neben dem Wohnen auch die Arbeit geregelt
(fel) Fast alle Kantone sind im Begriff, ihr Behindertengesetz zu revidieren oder haben es schon revidiert. Im Kanton Luzern trat das neue Gesetz Anfang 2020 in Kraft. Edith Lang, Dienststellenleiterin der Dienststelle Soziales und Gesellschaft des Kantons Luzern, gibt Auskunft über den Innovationsschub, den die UN-BRK in Gang gesetzt hat.
Im Kanton Luzern ist das revidierte Behindertengesetz – bei Ihnen im Kanton Luzern heisst dieses Gesetz «Gesetz über soziale Einrichtungen» (SEG) – am 01.01.2020 in Kraft getreten. Welches sind die wichtigsten Neuerungen, die das neue Gesetz gebracht hat, mit Blick auf den Erwachsenenbereich?
Edith Lang: Mit der Revision des Gesetzes respektive der Teilrevision des Gesetzes wurde der politische Wille zum Ausdruck gebracht, das selbstbestimmte Leben, Wohnen und Arbeiten von Menschen mit Behinderung zu fördern. Wir hatten den Auftrag, die UN-BRK ins bestehende Gesetz über soziale Einrichtungen einzupflegen und die Bereiche Wohnen und Arbeiten für erwachsene Menschen mit Behinderung zu regeln. Ein zentrales Ziel der Teilrevision des SEG war die Finanzierung ambulanter Dienstleistungen sowie die Anerkennung ambulanter Anbieter für den Erwachsenenbereich. Auf den ersten Blick ist es ein Institutionen-Gesetz, aber aus meiner Sicht haben wir ein weitreichendes Verständnis von Selbstbestimmung für die Lebensbereiche Wohnen und Arbeit in diesem Gesetz umgesetzt. Die nächste Stufe wäre ein Behindertengleichstellungsgesetz. Der Kantonsrat hat Mitte September ein entsprechendes Postulat eingereicht.
Mir fällt auf, dass im SEG der Begriff Behinderung nicht definiert wird, was untypisch ist, wenn man die verschiedenen Behindertengesetze in der Schweiz miteinander vergleicht. Womit hat das zu tun? Von welchem Behinderungsbegriff gehen Sie aus im Kanton Luzern?
Edith Lang: Am Anfang stand bei uns die Entwicklung eines Leitbildes, das im März 2018 vom Regierungsrat verabschiedet wurde. In einem mehrjährigen, breit angelegten Prozess, bei dem die verschiedenen betroffenen Akteurinnen und Akteure beteiligt wurden, entstanden eine Vision und darauf aufbauende Leitsätze. Damit wurden die konzeptionellen Grundlagen für die Gesetzesrevision gelegt. Dies implizierte auch, dass wir im Leitbild definierten, was wir unter Behinderung oder unter Teilhabe verstehen. Das Verständnis von Behinderung leitet sich ab von der UN-BRK.
Was ist konkret anders geworden seit dem 01.01.2020?
Edith Lang: Mit dem neuen Gesetz finanzieren wir für Menschen, die nicht im institutionellen Rahmen leben wollen, die beiden Leistungen Assistenzleistungen und Fachleistungen im ambulanten Bereich mit. Dem geht eine Bedarfsabklärung voraus; diese wird mit Hilfe eines Unterstützungsplans im Sinne der UN-BRK durchgeführt. Damit ein Anbieter Fachleistungen anbieten kann, muss er bestimmte Qualitätskriterien erfüllen. Weiter muss die betreffende Person in einer selbstgemieteten Wohnung leben bzw. im allgemeine Arbeitsmarkt arbeiten. Die ambulanten Angebote in den Bereichen Wohnen und Arbeiten mussten teilweise neu aufgebaut werden. Daneben gibt es auch kantonale Assistenzleistungen, die weder Qualitätskriterien des Anbieters noch ein Arbeitgebermodell voraussetzen, das viele Menschen mit kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen ausschliesst. Aufgrund der Bedarfsabklärung erteilen wir eine Kostengutsprache, mit der sich die Person jene Dienstleistungen einkaufen kann, die sie braucht, und zwar bei wem sie will. Im Gesetz haben wir uns auf die zwei Lebensbereiche Wohnen und Arbeit fokussiert. Die anderen Lebensbereiche könnten dann im Behindertengleichstellungsgesetz oder anderen Spezialgesetzen behandelt werden.
Mittlerweile ist bei Ihnen im Kanton Luzern die Abklärungs- und Beratungsstelle errichtet worden. Bei wem ist diese Abklärungsstelle angesiedelt?
Edith Lang: Wir haben derzeit nicht eine Abklärungsstelle, sondern fünf. Das sind die Pro Infirmis, der Verein luniq, die Stiftung Profil, die IG Arbeit und sensiQoL. Der politische Wille war, in der Einführungsphase mit mehreren Abklärungsstellen zu arbeiten, weil es viele Player im Kanton gibt, welche die fachlichen Kompetenzen mitbringen. Ziel ist, Erfahrungen zu sammeln, um das Profil der zukünftigen Abklärungsstelle punkto Anforderungen und Aufgaben noch besser zu schärfen. Für die längerfristige Vergabe wird eine Ausschreibung gemacht. Klar ist, dass die Stelle unabhängig sein muss und z.B. auch selbst keine Dienstleistungen erbringen kann. Denkbar ist auch, dass wir mit einem anderen Kanton kooperieren. In der Zentralschweiz hat zum Beispiel der Kanton Zug eine Vorreiterrolle übernommen und wir konnten Instrumente von ihm übernehmen und dadurch schnell starten. Wir tauschen uns auch intensiv mit anderen Kantonen aus. Es ist nicht nötig, dass jeder Kanton immer wieder bei Null beginnt. Klar muss man kantonale Eigenheiten berücksichtigen, aber die zentrale Frage ist: Hat der Mensch, der ein Gesuch einreicht, einen Vorteil von kantonal unterschiedlichen Lösungen?
Etwas verstehe ich nicht. Bei Ihnen im Kanton Luzern wurde jetzt am 1.1.2020 im stationären Bereich der IBB eingeführt, das Bedarfserhebungsinstrument, das in der Ostschweiz entwickelt und überall implementiert wurde, aber auch als defizitorientiert gilt. Wird nun nicht zusätzlich auch bei Ihnen der Graben zwischen stationär und ambulant vertieft und die Durchlässigkeit erschwert? Warum hat man nicht die Chance gepackt und hat auch im stationären Bereich ein ressourcenorientiertes Tool wie den Unterstützungsplan eingeführt?
Edith Lang: Wir betrachten den IBB als reines Finanzierungsinstrument. Jeder Einrichtung steht es frei, noch ein anderes Tool zu benutzen, um die Ressourcen der Klient*innen zu fördern. Man kann auch im stationären Bereich mit dem Unterstützungsplan arbeiten. Noch besser wäre ein Instrument, mit dem alle beteiligten Leistungserbringenden arbeiten, also auch die IV, die Psychiatrie oder die Spitäler.
Landauf landab erhofft man sich mit der Subjektfinanzierung im ambulanten Bereich Kosteneinsparungen. Die Realität sieht aber anders aus – mindestens im Kanton ZH wurden die Erwartungen in diese Richtung gedämpft. Wo steht der Kanton Luzern diesbezüglich? Kann mit dem neuen SEG tatsächlich Geld gespart werden?
Edith Lang: Man muss zwei Dinge unterscheiden: Betrachtet man die individuelle Ebene, wird das ambulante Setting für eine einzelne Person günstiger, weil nur punktgenaue Dienstleistungen beansprucht werden können und bezahlt werden und man auch davon ausgeht, dass die Personen bestimmte Aufgaben selbst übernehmen können. Aber in der Gesamtheit werden die Kosten nicht sinken, da haben Sie Recht. Denn wegen der demografischen Entwicklung wird es mehr Personen geben mit einem höheren Betreuungsbedarf und die Zahl neuer Bezüger*innen von ambulanten Dienstleistungen wird steigen. Aber wir können mit denselben Mitteln einen größeren Kreis von Personen erreichen.
Wie relativ ist die Wahlfreiheit beim Wohnen? Wird das Recht, in der eigenen Wohnung zu wohnen auch Menschen zugestanden mit IBB 3 oder 4?
Edith Lang: Ja, natürlich. Aber wir haben für das ambulante Wohnen eine Obergrenze definiert, die sich an den Kosten im stationären Bereich orientiert. Das heisst, das ambulante Setting darf nicht teurer werden als das stationäre Setting.
Damit stösst die angestrebte Wahlfreiheit dann – aus verständlichen Gründen – doch an Grenzen.
Edith Lang: Theoretisch ja, in der Praxis haben wir das interessanterweise bis jetzt nicht erlebt. Insgesamt haben wir in den ersten drei Jahren 200 Gesuche bekommen, der Bereich Arbeit ist da inbegriffen; beim Wohnen haben wir in einer ersten Phase Gesuche von Personen, mit weniger Unterstützungsbedarf bewilligt, z.B. Klient*innen von Pro Infirmis oder anderen Anbietern von begleiteten Wohnformen. Wir konnten vielleicht ein oder zwei Gesuche nur teilweise gutheissen, weil die Kosten zu hoch gewesen wären. Bis jetzt ist das ein marginales Thema.
Das könnte sich aber verändern, wenn dann mehr Personen aus dem stationären Bereich selbständig wohnen wollen.
Edith Lang: Ja. Die Dynamik wird sich auf jeden Fall verändern. Wir stellen das jetzt schon fest, dass jüngere Generationen vermehrt versuchen, einen stationären Eintritt zu vermeiden.
Ein Punkt im Leitbild interessiert mich im Kontext Wohnen noch besonders: beim Handlungsfeld Freizeit & Politik wird gesagt, dass Freizeitaktivitäten bei Bedarf «assistenzbegleitet» sind. Was heisst das? Gibt es im Kanton Luzern eine Art Begleitdienst?
Edith Lang: Im Rahmen der kantonalen Assistenzleistungen kann auch die Begleitung von Freizeitaktivitäten in die Bedarfserhebung einfliessen. Zudem gibt die sogenannten Tixi-Taxi-Bons. Pro Person steht – je nach finanziellen Mitteln der öffentlichen Hand- ein gewisser Beitrag pro Jahr zur Verfügung, mit dem man sich Fahrten nach eigenem Belieben finanzieren kann, sei das, um an kulturellen Aktivitäten teilhaben zu können oder auch für einen Arztbesuch. Die Pro Infirmis bearbeitet die entsprechenden Gesuche.
Der Kanton Luzern ist der erste Kanton, der die Arbeit im Behindertengesetz integriert hat. Welche Absicht haben Sie damit verbunden?
Edith Lang: Uns ging es darum, die Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern. Menschen mit einer IV-Rente, die nicht mehr in den Genuss von beruflichen Eingliederungsmaßnahmen kommen können, sollen die Möglichkeit haben, trotzdem im ersten Arbeitsmarkt arbeiten zu können. Das heisst, es braucht dort bei Bedarf eine Finanzierung einer Begleitung am Arbeitsplatz oder einer Unterstützung, wenn ein Arbeitsplatzwechsel ansteht. Damit erhöht sich die Chance, dass die Klient*innen auch dann im ersten Arbeitsmarkt bleiben können, falls es zu persönlichen Schwierigkeiten kommt oder es beim Arbeitgeber Veränderungen gibt. Wir leisten also nicht Strukturbeiträge an den Arbeitgeber, sondern die Person soll die Leistung im Sinne der Subjektorientierung erhalten. Von den rund 200 Gesuchen die bis Ende letzten Jahres gestellt wurden, wurden bei knapp einem Drittel Unterstützungsleistungen für den Bereich Arbeit nachgefragt, ausschliesslich oder in Kombination mit Unterstützung fürs Wohnen.
Sie können jetzt auf einen mehr als fünfjährigen Prozess zurückblicken. Wie beurteilen Sie diesen im Rückblick?
Edith Lang: Von Seiten der Institutionen gab es am Anfang schon Ängste, die wir zuerst abbauen mussten. Es herrschte Unsicherheit, ob sie nun auf Kosten der stationären Angebote flächendeckend ambulante Dienstleistungen anbieten müssen. Erklärtes Ziel ist aber, das wir beide Schienen bedienen, es ist ein Sowohl-als-auch; die Legitimität der stationären Angebote wird nicht in Frage gestellt. Es brauchte Sensibilisierungsarbeit gegenüber allen Akteurinnen und Akteuren und wir setzten auf sehr vielen verschiedenen Ebenen an: Mit der Entwicklung des Leitbildes begann ein intensiver Dialog; dann führten wir mehrere Pilotprojekte durch bzw. ermöglichten und begleiteten sie; die Überarbeitung des Zentralschweizer Rahmenkonzeptes zur Behindertenpolitik in den Bereichen Wohnen und Arbeiten im Jahr 2019 bekräftigte die Verpflichtung zur UN-BRK aller Zentralschweizer Kantone; und indem wir 2022 eine wissenschaftliche Bedürfnisanalyse haben machen lassen, konnten wir auch untermauern, dass sich die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung immer stärker in Richtung mehr Selbstbestimmung entwickeln. Ein grosser Prozess ist in Gang gekommen. Wir sind gut unterwegs.
Der Leitbild-Prozess war sicher wertvoll, das Terrain gut vorzubereiten.
Edith Lang: Ja, auf jeden Fall. Damit waren wir in einem guten Dialog mit allen wichtigen Akteurinnen und Akteuren. Am meisten Widerstand hat wohl der Abklärungsprozess ausgelöst. Dieser war neu und damit stand im Raum, dass es einen neuen Player geben kann. Mit dem Entscheid, in einer Einführungsphase mehrere Organisationen damit zu beauftragen, sind wir dann einen guten Weg gegangen.
Mittelfristig verändert sich wohl insofern nicht viel, als infolge der demografischen Entwicklung – Stichwort Überalterung – ja auch immer mehr Menschen mit Behinderung länger in den sozialen Organisationen bleiben und so die sinkende Zahl von Neueintritten kompensiert wird. Und mit dem zunehmenden Fachkräftemangel ist es auch für die sozialen Organisationen nicht mehr so attraktiv, noch mehr zu wachsen.
Edith Lang: Genau. Und auch sonst gibt es grosse Herausforderungen, die im Alltag bewältigt werden müssen. Die durchschnittliche IBB-Stufe steigt, was im Bereich Tagesstruktur zu Verschiebungen von Angeboten in der Tagesstruktur mit Lohn zu Angeboten in der Tagesstruktur ohne Lohn führt und strukturell in den Institutionen doch einiges verändert. Und im Bereich Wohnen wird die Arbeit auch anspruchsvoller, weil mehr Personen Pflege brauchen - um nur zwei Beispiele zu nennen.
Pikant ist, dass nun im SEG die Pro Infirmis oder Profil als «soziale Einrichtung» gelten. Das hat sicher viel Widerstand hervorgerufen.
Edith Lang: Ja, sie hatten Vorbehalte, aber im Dialog konnten diese ausdiskutiert werden. Mit der Anerkennung erhalten sie auch ein Qualitätslabel, das allen Beteiligten Orientierung gibt.
Bei uns im Kanton St. Gallen läuft unter den Anbietern ein intensiver Prozess, um das althergebrachte Wording komplett zu ersetzen. Wir sind uns einig, dass Begriffe wie Institution oder Einrichtung aber auch stationär oder ambulant verschwinden müssen, wenn wir ein fortschrittliches Gesetz haben wollen. Würden Sie dem widersprechen?
Edith Lang: Nein, der Mensch mit seinen Potenzialen soll im Mittelpunkt stehen. Sie dürfen nicht vergessen, dass im Kanton Luzern dieser Paradigmenwechsel sehr früh angefangen hat. Die Zeit zwischen der Erarbeitung des Leitbilds und der Einführung des neuen Gesetzes war zudem sehr kurz, zwei Jahre. Wir sind sehr schnell vorwärts gegangen im politischen Prozess und damit haben wir uns mit ganz anderen Fragen beschäftigt. Die Umsetzung der UN-BRK ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist und den wir nur gemeinsam erfolgreich gestalten können.