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Menschen mit Autismus brauchen oft eine 1:1-Begleitung
(fel) Seit einiger Zeit bekommt das Thema Autismus-Spektrum-Störungen in unserer Branche mehr Aufmerksamkeit. Die spezifischen Bedürfnisse dieser Zielgruppe stellen oft eine Herausforderung für das Fachpersonal dar. Astrid Schoch, Co-Leiterin bei der Organisation Workaut, die autistische Menschen, ihre Angehörigen und Fachpersonen in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Ausbildung begleitet, gibt einen Einblick in ihren Fachbereich.
Allem Anschein nach gibt es immer mehr Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Mindestens hat unsere Branche immer häufiger mit diesem Zielpublikum zu tun. Stimmt dieser Eindruck, dass immer mehr Menschen von dieser Diagnose betroffen sind?
Astrid Schoch: Nicht unbedingt. Man geht davon aus, dass rund 1 % der Bevölkerung von Autismus betroffen ist. Heute sind die Diagnose-Kriterien viel differenzierter als früher, wo Autismus oft nicht erkannt bzw. falsch diagnostiziert wurde. Darüber hinaus würde ich sagen, dass während der Schulzeit bzw. im Arbeitsleben nicht nur Menschen mit Autismus auffälliger geworden sind oder mehr Krisen haben, sondern generell die schwierigen Lebenssituationen zunehmen, was die Menschen vulnerabler macht, was sich ja auch in der letzten IV-Revision abbildete. Das hat mit unserem Lebensstil, der Arbeitswelt und insbesondere mit dem steigenden Leistungsdruck zu tun. Es sind zudem auch viele Berufe verschwunden bzw. es haben sich Berufsbilder verändert; das nicht nur, aber gerade auch zum Nachteil von Menschen mit Autismus. Die Entwicklung unserer Gesellschaft zu einer immer ausgeprägteren Dienstleistungsgesellschaft mit vielen „high touch“-Arbeitsstellen ist für Menschen mit Autismus, die Mühe mit sozialen Kontakten haben, eine große Herausforderung.
Offenbar stellen Menschen mit ASS aber auch für unsere Branche eine große Herausforderung dar. Viele Fachpersonen fühlen sich nicht kompetent genug, diese Menschen zu begleiten. Warum?
Astrid Schoch: Ein wesentlicher Grund dafür ist wohl fehlende Erfahrung bzw. fehlendes Wissen in Bezug auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Zielgruppen. Oft gibt es auf der einen Seite ausgeprägte Spezialinteressen, gepaart mit unterschiedlicher Intelligenz. Auf der anderen Seite können diese Menschen nicht auf ihre Ressourcen zurückgreifen, die anderen wie selbstverständlich zur Verfügung stehen: Das Einteilen der eigenen Energie, Kommunikationsanforderungen und Interpretieren von sozialen Situationen sind für sie große Herausforderungen. Dies kann sich auf das gesamte Leben je individuell auswirken; auf den Beruf, die Freizeit, Freundschaften etc.. Diese besondere Wahrnehmungs- und Denkweise ist für das Gegenüber schwer nachvollziehbar und führt öfters auf beiden Seiten zu belastenden Situationen. Die Forschung heute zeigt, dass es mehr Frauen mit Autismus gibt, als diagnostiziert werden. Dies hat damit zu tun, dass sie sich in der Regel besser anpassen können (anders sozialisiert sind) und dadurch ein weniger auffälliges Verhalten als Männer zeigen. Das liegt daran, dass sich die Diagnostik lange Zeit an Männern mit Autismus ausrichtete – ein Phänomen, das wir aus vielen medizinischen Fachgebieten kennen. Aber zum Glück wird heute differenzierter diagnostiziert.
Wie würdest du die Besonderheiten von Menschen mit Autismus beschreiben, wenn das überhaupt möglich ist?
Astrid Schoch: Es liegt mir fern, Menschen aus dem Autismus-Spektrum kategorisieren zu wollen und doch gibt es Merkmale, die gehäuft auftreten: Menschen mit Autismus wirken bei der ersten Begegnung manchmal unauffällig, manchmal sogar kommunikativ. Sie werden dann überschätzt, was zu Überforderung und Stress führt. Neue und unvorhergesehene Situationen können sehr viel Verunsicherung und Angst auslösen. Stabile Phasen lösen sich ab mit krisenhaften Phasen, weil ihre ‚Einschränkungen‘ alle Lebensbereiche betreffen und es somit nicht augenfällig ist, wenn ihre Energie-Balance aus dem Lot gerät. Sich an die Umweltansprüche anzupassen, bedeutet auch unterschiedlichen Bedarf an Begleitung. Der Rückzug ist eine oft angewandte Bewältigungsstrategie, um Stresssituationen zu „vermeiden“. Weitere Schwierigkeiten im Alltag sind Übergänge, Reizüberflutung aufgrund ihrer Wahrnehmungsverarbeitung, wortwörtliches Verständnis und daraus folgend, dass sie sich nicht verstanden fühlen. Die Corona-Zeit war für viele Menschen mit Autismus diesbezüglich eine positive, weil entspannte Zeit: soziale Regeln wie Händeschütteln oder Küsschen geben fielen weg. Weiter ist es für Menschen mit Autismus schwierig, komplexe Situationen zu erfassen und zu Aufgaben zu priorisieren – und das durchaus unabhängig von ihrer Intelligenz. Der Transfer von Gelerntem auf neue Situationen, eine adäquate Selbstorganisation sind ebenfalls anspruchsvolle Themen und oft nur mit Begleitung möglich. Und dann erst eine realistische Selbsteinschätzung zu entwickeln erst recht schwierig und schmerzhaft.
Wo muss man ansetzen? Wie können wir Menschen mit ASS am besten gerecht werden?
Astrid Schoch: Auf der einen Seite sollte man bei den Rahmenbedingungen wie z.B. Arbeitsplatz-Anpassungen ansetzen, welche optimal auf die Person ausgerichtet sein sollten. Es braucht am Anfang sehr viel Zeit, einen Menschen mit all seinen Facetten kennenzulernen und richtig einzuschätzen. Im Alltag, sei es bei der Arbeit, in der Ausbildung oder beim Wohnen, braucht die Begleitung sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit. Erst dann kann/wird die Person ihre Ressourcen richtig zeigen können. Andererseits ist es wichtig, dass ein Mensch mit Autismus auch selber eine Entwicklung machen kann (Psychoedukation). Ein großes Thema für uns ist, ein angemessener Betreuungsschlüssel - oft ist 1:1-Begleitung notwendig -, der oft nicht zur Verfügung steht und der auch im geschützten Rahmen erforderlich ist, um einen Prozess anzustoßen und Vertrauen aufzubauen. Ohne gute Rahmenbedingungen kann man diesen Menschen nicht gerecht werden. Wenn das Ziel ist, dass eine möglichst hohe Teilhabe am sozialen Leben und eine autonome Lebensführung zu ermöglichen, ist das notwendig. Nur so kann das Helfersystem eine gute Balance finden, zwischen Unterstützung geben und möglichst viel Autonomie und Entscheidungsfreiheit gewähren bzw. ermöglichen zu können.
Das ist ja nicht grundlegend anders als bei anderen Zielgruppen, die unsere Organisationen begleiten.
Astrid Schoch: Ja, klar, die Ziele sind die gleichen. Und doch sind die Bedürfnisse, Defizite, Schwierigkeiten und Erfordernisse sehr spezifisch. Es darf nicht vergessen werden, dass Autismus eine „Kommunikations- und Sozialbehinderung“ ist. Diese Kluft zwischen ihren speziellen Interessen und Ressourcen einerseits und der Bedarf an engmaschiger Begleitung und detaillierten und wiederholten Anweisungen andererseits – sogar bei selbstverständlich anmutenden Tätigkeiten – macht der Gesellschaft und auch uns Fachpersonen am meisten zu schaffen. Besondere Sorgfalt braucht es gerade bei allen Übergängen, zum Beispiel Schule-Lehre und der Berufswahl.
Abgesehen von den benötigten zeitlichen Ressourcen bzw. adäquaten Rahmenbedingungen, würde das bedeuten, dass unser Personal sich mehr weiterbilden müsste, um den spezifischen Bedürfnissen dieses Zielpublikums besser gerecht werden zu können?
Astrid Schoch: Ja, es besteht sicher ein Weiterbildungsbedarf. Ein fundiertes fachliches Wissen über Autismus und mögliche Auswirkungen (wie oben ausgeführt) ist in der Arbeit mit Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung zentral. Fachpersonen müssen lernen, die Sichtweise von Menschen mit Autismus „einzunehmen“, um die besondere Denkweise zu verstehen und nachzuvollziehen. Nur so ist es möglich, nachzuvollziehen, weshalb der Klient den Weg zum Flughafen (Spezialinteresse Flugzeuge fotografieren) alleine bewältigen kann, aber Panikgefühle entwickelt, wenn er alleine zum Bahnhof gehen soll, um einen Auftrag auszuführen. Aus unserer Sicht braucht es mehr spezifische Angebote, die auf Menschen mit Autismus ausgerichtet und auch adäquat finanziert sind.
Nachtrag: An der Sitzung der Fachkommission Berufliche Integration von Ende März 2023 wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, die ein Schulungskonzept zum Thema Autismus erarbeiten wird.
Literatur-Tipp: Maria Zimmermann: Anders, nicht falsch. Kommode Verlag 2023.
Link zu Porträts über verschiedene Menschen mit ASS im Magazin Saint Gall Nr. 04, Dezember 2022