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Gesetzesrevision im Kanton ZH - Sparen ist nicht das Ziel
(fel) Der Kanton ZH ist mit seinem neuen Behindertengesetz auf der Zielgerade. In Riesenschritten wird jetzt die letzte Meile zurückgelegt: Nachdem der Kantonsrat das neue Gesetz des Kantons Zürich, das sogenannte Selbstbestimmungsgesetz, am 28.02.2022 einstimmig angenommen hat, wird es am 01.01.2024 in Kraft treten. Die Geschäftsleiterin von INSOS ZH, Sabrina Gröbli, zieht eine erste Bilanz.
Sabrina, ist das neue Gesetz nun Ausdruck eines lang erwarteten Paradigmenwechsels, ja sogar eine richtige Errungenschaft, bei der ihr als INSOS ZH zudem einen wichtigen Beitrag leisten konntet?
Sabrina Gröbli: Ja, es ist ein Paradigmenwechsel, zu dessen Gelingen wir einiges beitragen konnten. Daniel Frei, der Präsident von INSOS ZH, war Mitmotionär der Motion «Selbstbestimmung ermöglichen durch Subjektfinanzierung», womit das Thema auf dem politischen Parkett gesetzt war. Das neue Gesetz schafft nun auch effektiv die Voraussetzungen, dass Betroffene ihrem individuellen Bedarf entsprechend direkt unterstützt werden und ihre Wahlfreiheit und Selbstbestimmung optimal umsetzen können. Die Erarbeitung des neuen Gesetzes war hoch partizipativ; alle wichtigen Anspruchsgruppen waren involviert und das Projekt wurde von der ZHAW begleitet. Wir sind, soweit ich dies zum aktuellen Zeitpunkt beurteilen kann, zufrieden mit dem Resultat.
Die Arbeiten zur Umsetzung sind jetzt in vollem Gang. Wo steht ihr derzeit?
Sabrina Gröbli: Aktuell ist das Kantonale Sozialamt damit beschäftigt, die Verordnung auszuarbeiten. Dazu gibt es Fokusgruppen zu verschiedenen Teilprojekten. INSOS ZH ist in allen Fokusgruppen vertreten. Das Kantonale Sozialamt bringt Schlüsselthemen in die Fokusgruppen ein und nutzt die dortigen Inputs, um die Verordnung zu erarbeiten.
Ein Gesetz ist ein sehr abstraktes Gebilde, das viele Sachverhalte nicht im Detail regeln kann und soll. Macht ihr euch keine Sorgen, dass dann auf Verordnungsebene Dinge entschieden werden, welche die Leistungsnutzenden oder die Leistungserbringer nicht anfechten können?
Sabrina Gröbli: Der Prozess zur Erarbeitung der Verordnung ist sehr partizipativ gestaltet und wir haben eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Kanton. Dass es in dieser Vorgehensweise eine Kehrtwende gibt, und über die Köpfe hinweg entschieden wird, kann ich mir nicht vorstellen. Zudem wäre es wohl auch nicht im Interesse des Kantons eine Verordnung zu erschaffen, die operativ nicht umsetzbar ist. Klar wird es auch notwendig sein, Kompromisse einzugehen und als Verband genau zu beobachten, wie sich die Dinge in der Praxis entwickeln. Dazu werden wir sicherlich auch die dreijährige Übergangsfrist nutzen und Sachen, die nicht funktionieren, direkt ansprechen.
Mir fällt auf, dass das Zürcher Gesetz nur einen marginalen Bezug zur UN-BRK hat. Die UN-BRK wird lediglich einmal erwähnt – in Zusammenhang mit der Kommission für Behindertenfragen (Art. 44). Womit hat das zu tun?
Sabrina Gröbli: Die Orientierung an der UN-BRK ist implizite Voraussetzung für das Gesetz. Die UN-BRK war ja der Anstoss für die Motion und war damit als Ausgangspunkt und Basis gesetzt. Der Bezug ist also allgegenwärtig, es wird nur nicht nochmals explizit erwähnt.
Kommen im Gesetz aber nicht bestimmte Themen zu kurz? Zum Beispiel ist von der ‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ die Rede (Art. 10), aber es gibt keine Aussagen dazu, was damit gemeint ist.
Sabrina Gröbli: Man muss sich vor Augen halten, dass die gesellschaftliche Teilhabe eigentlich alle Lebenszusammenhänge betrifft, die wiederum von vielen anderen Gesetzen und Verordnungen geregelt werden. Nur schon im Bereich Wohnen ist die Komplexität enorm. Wenn das neue Gesetz z.B. die Wahlfreiheit postuliert, heisst das noch nicht, dass auch genug bezahlbare oder barrierefreie Wohnungen zur Verfügung stehen. Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wurde jetzt im Bereich Wohnen ein Anfang gesetzt, und nun geht es darum, konkrete Umsetzungsvorschläge zu erarbeiten und das Ganze so herunterzubrechen, dass die Betroffenen einen wirklichen Nutzen haben.
INSOS SG-AI befindet sich auch in einer Gesetzesrevision und beobachtet sehr genau, was in den anderen Kantonen passiert. Beim Zürcher Gesetz wird die Arbeit zwar in Artikel 1 erwähnt, ist dann aber faktisch kein Thema.
Sabrina Gröbli: Für mich ist es nachvollziehbar, nur ein Thema anzugehen, das wirklich gründlich durchleuchtet und praxistauglich umgesetzt wird. So ist auch eine zeitnahe Umsetzung gewährleistet. Danach kann man in nächsten Schritten auf dem bereits Erarbeiteten aufbauen. Da die UNO-BRK für den Bereich Arbeit die gleiche Wahlfreiheit wie für den Bereich Wohnen fordert, wird dies in einem nächsten Schritt sicherlich auch thematisiert werden müssen. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten zwischen den Bereichen Wohnen und Arbeit, aber gleichzeitig haben sie unterschiedliche Voraussetzungen. Wir gehen auch davon aus, dass wir dann von den gemachten Erfahrungen im Bereich Wohnen lernen können und der Arbeitsbereich davon profitiert.
Menschen mit Beeinträchtigung erhalten mit dem neuen Gesetz primär grössere Freiheiten bei der Wahl der Wohn- und Betreuungsformen. Wie kann sichergestellt werden, dass auch Menschen mit einer schweren, komplexen Beeinträchtigung diese Wahlfreiheit garantiert wird und sie nicht diskriminiert werden?
Sabrina Gröbli: Es wird wichtig sein, die betroffenen Menschen zu befähigen, mit dem neuen System umzugehen. Und natürlich ist es wichtig, dass Menschen, die aus individuellen Gründen nicht komplett eigenständig entscheiden können, vom Umfeld – z.B. den Beiständ*innen – gut unterstützt werden. Es ist ausserdem zu hoffen, dass es v.a. im Bereich Kommunikation in Zukunft neue technische Hilfsmittel geben wird, die das Ausüben der Wahlfreiheit erleichtern werden. Gleichzeitig sind der Wahlfreiheit von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft Grenzen gesetzt, die auch mit dem Gesetz nicht aufgehoben werden können.
Gibt es keine Befürchtungen, dass die im Gesetz verankerten Grundsätze von Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit es verhindern, dass auch Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung z.B. in einer eigenen Wohnung leben können, weil der Unterstützungsbedarf so gross ist?
Sabrina Gröbli: Mit dem geplanten Voucher, welcher für jede Person den Leistungsbedarf ausweist, sollte es keine Rolle spielen, in welchem Setting die Leistung bezogen wird. Was wir heute noch nicht wissen, ist, welche Vergütungsansätze an diese Zeitwerte geknüpft sind. Davon wird natürlich auch einiges abhängen. Das betrifft dann aber alle gleichermassen. Je nach Behinderung oder Betreuungsaufwand kann es aber sein, dass z. B keine Wohnung oder kein Personal gefunden wird. Dann ist aber nicht das Gesetz die Barriere, sondern der gesellschaftliche Kontext. Klar ist aber auch, dass eine individuelle Betreuung zuhause je nach Bedarf teurer zu stehen kommt. Deshalb ist es aus Sicht des Kantons auch nicht möglich, dieses Gesetz zielführend umzusetzen und gleichzeitig zu sparen.
Ihr seid schon ein paar Jahre mit der Gesetzesrevision beschäftigt. Welches waren aus eurer Sicht die grössten Stolpersteine? Was können wir von euch lernen?
Sabrina Gröbli: Das neue Gesetz löst bei den Mitgliedern verständliche Unsicherheiten aus. Da im Erarbeitungsprozess vieles unklar ist, sind in den Institutionen in gewissen strategischen Prozessen vorübergehend blockiert. Es entsteht eine Planungsunsicherheit. Diese Unsicherheit kann nicht komplett beseitigt werden, solange nicht alle Informationen vorliegen. Eine Aufgabe des Verbands ist es, die sozialen Organisationen bei dieser Unsicherheit gut zu begleiten. Es braucht eine kontinuierliche Kommunikation, auch z.B. in Form von Veranstaltungen. Wir konnten dies teilweise mit dem Kanton gemeinsam machen, was natürlich optimal ist, weil dort die Fragen direkt von den Verantwortlichen beantwortet werden können und der Kanton im Umkehrschluss aus erster Hand die Stimmung der Institutionen wahrnimmt. Ausserdem ist es wichtig, alle Befürchtungen und Fragen aufzugreifen und wenn möglich in den geeigneten Gefässen zu platzieren. Damit können viele Ängste und Sorgen ausgeräumt werden. Wichtig ist ausserdem eine gegenseitige Vertrauensbasis und eine gemeinsame Offenheit für Weiterentwicklungen und Anpassungen. Das neue Gesetz ist für alle Beteiligten ein Lernprozess, somit bringen auch alle wichtige Erkenntnisse ein.