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Der Voucher wird als bevormundend empfunden

(fel) In vielen Kantonen werden derzeit die Behindertengesetze revidiert, um der UN-BRK gerecht zu werden. Die Kantone gehen dabei unterschiedliche Wege und sind unterschiedlich weit. Im Kanton Zürich trat das neue Gesetz Anfang Jahr in Kraft. Matyas Sagi-Kiss, Vorstandsmitglied der Behindertenkonferenz Zürich, gibt Auskunft über den Stand der Dinge. 

Wenn man von der UN-BRK, Artikel 19, redet und sich fragt, wie man ihn am besten umsetzen kann, richtet sich derzeit der Blick nach Zürich und auf das Selbstbestimmungsrecht (SLBG), das jetzt seit Anfang Jahr in Kraft ist. Was ist seit dem 1. Januar anders im Kanton ZH?

Matyas Sagi-Kiss: Momentan noch nicht so viel. Am 1. Januar ging die dreijährige Umsetzungsphase los. Menschen mit Behinderung können nun ein Gesuch um Leistungen auf dem analogen oder digitalen Weg einreichen. Nach einer Vorprüfung muss die betreffende Person dann ggf. mit Unterstützung einer Beratungsstelle einen Fragebogen ausfüllen und einreichen. Danach wird man zu einem Abklärungsgespräch eingeladen. Im Anschluss wird dann über den Leistungsanspruch entschieden und die betreffende Person mit Behinderung kann dann neu auch ambulante Leistungen beziehen statt nur stationäre Leistungen wie bisher. Im Laufe dieses Jahres wird sich also noch einiges verändern. 

Das Gesetz gilt für alle Menschen mit Behinderung, unabhängig vom Betreuungsbedarf? 

Matyas Sagi-Kiss: Nein. Nur wer eine Hilflosenentschädigung und oder eine Rente der IV bezieht, hat  Anspruch auf Leistungen, sofern der tatsächliche Unterstützungsbedarf höher ist als die bereits durch andere Versicherungen erbrachte Leistungen. Hinzu kommt eine weitere Einschränkung, denn bei der Beurteilung des Leistungsanspruchs muss die Abklärungsstelle den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren. Dies kann zur Folge haben, dass im Einzelfall nicht der ganze Bedarf gedeckt werden kann. Die Behindertenkonferenz wird sich hier natürlich dafür einsetzen, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip nicht als Ausrede dafür benutzt wird, das Selbstbestimmungsrecht und damit einhergehend die UNO-BRK zu verletzen. 

Gibt es nun einen Run bez. Anmeldungen?

Matyas Sagi-Kiss: Es sind tatsächlich seit Anfang Jahr schon viele Gesuche eingegangen. Die Abklärungsstelle hat viel zu tun. 

Bei wem ist die Abklärungsstelle angesiedelt?

Matyas Sagi-Kiss: Beim Kanton, und zwar beim Sozialamt. Marianne Ribi, die ehemalige Geschäftsleiterin der BKZ, leitet die Abklärungsstelle und bearbeitet mit einem kleinen Team die Gesuche. Die Angestellten bringen verschiedene fachliche Qualifikationen aus dem stationären und ambulanten Bereich mit. Erfreulich ist, dass auch Menschen mit Behinderung im Team sind. Ich bin froh darüber, dass die Abklärungsstelle zum Beispiel nicht bei der SVA angesiedelt wurde und würde daran aktuell nichts ändern wollen. Die Abklärungsstelle wäre dort wesentlich angreifbarer, da die SVA über Ihre IV-Stelle bekanntlich auch den Anspruch auf einen Assistenzbeitrag und eine HE der IV vornimmt und so würde vermutlich gewissermassen ein neues «Kässelsipiel» zwischen Kanton und Bund innerhalb der Sozialversicherungsanstalt beginnen. Eine Forderung der BKZ war eine unabhängige Abklärungsstelle. Vielleicht wäre zum Beispiel eine Stiftung mit paritätisch zusammengesetzten Organen auch eine Lösung. Ein privates, gewinnorientiertes Unternehmen ist sicher keine Lösung, wenn man faire Abklärungen ohne finanzielle Motive gewährleisten will, denn erhält ein gewinnorientiertes Unternehmen für Abklärungen einen bestimmten Betrag, rückt das Interesse, diese Abklärungen möglichst seriös und vollständig durchzuführen, gegenüber dem finanziellen Interesse (Überschuss pro Abklärung) in den Hintergrund.  

Der Kanton ZH ist ja flächenmässig eher gross. Gibt es damit mehrere Abklärungsstellen, die im ganzen Kanton verteilt sind?

Matyas Sagi-Kiss: Nein, es gibt eine zentrale Abklärungsstelle in der Nähe des Hauptbahnhofs. Meines Wissens sind aber auch Telefontermine und Gespräche am Aufenthaltsort der betroffenen Personen möglich. 

Du bist im Vorstand der Behindertenkonferenz Zürich (BKZ). Welchen Beitrag hat die BKZ bei der Erarbeitung des neuen Gesetzes geleistet?

Matyas Sagi-Kiss: Das Ziel des kantonalen Sozialamtes war es, bei der Erarbeitung des neuen Gesetzes die Partizipation zu gewährleisten. Es fanden 2-3 Workshops und einige Fokusgruppensitzungen statt, bevor der Entwurf an den Kantonsrat ging. An diesen Workshops und Sitzungen waren nebst den Leistungserbringern und Vertretungen vom Verband der Berufsbeistandspersonen etc. auch Menschen mit Behinderung und die BKZ vertreten.  

Ist die BKZ zufrieden mit dem Resultat?

Matyas Sagi-Kiss: Das Gesetz kann sich sehen lassen: Ohne Zweifel ist das ein wichtiger Schritt in Richtung Wahlfreiheit. Und wir konnten massgeblich mitwirken. Es gibt aber auch Dinge, die wir nicht wollten - wie z. B. den Voucher. Wir empfinden den Voucher als bevormundend. Er ist Ausdruck von Misstrauen gegenüber den Betroffenen bzw. deren Beistandspersonen. Wenn man den Voucher nur bei den Firmen einlösen kann, die auf einer Liste sind, bedeutet das, dass man ihnen nicht zutraut, selbst ein Urteil über die Qualität der nachgefragten Dienstleistungen zu fällen.

Aber die Frage der Qualität ist doch wichtig.

Matyas Sagi-Kiss: Ja, Qualitätskontrolle ist wichtig und darf nicht vernachlässigt werden. Das spricht nicht gegen Geldleistungen an Betroffene. Der Kanton sollte sich hier nicht widersprüchlich verhalten. Es gibt keinen Grund, bei ambulanten Dienstleistungen nach SLBG höhere Anforderungen als im Bereich der Pflege oder Haushaltshilfe bei Spitex-Dienstleistungen zu stellen. Es sei denn, man sieht dort einen Mangel und dann sollte dieser in beiden Bereichen behoben werden. 

Das heisst, es gibt nun also eine Liste mit Anbietern?

Matyas Sagi-Kiss: Noch wurde die Liste nicht publiziert. Ich vermute, dass das kantonale Sozialamt daran arbeitet und die Liste rechtzeitig publiziert, sobald die ersten Leistungsentscheide getroffen werden. Ich gehe davon aus, dass die Liste zu Beginn noch nicht allzu viele Anbietende enthält und auch noch nicht die gesamte Vielfalt an Dienstleistungen bezogen werden kann. Auch aus diesem Grund kann der Voucher problematisch sein. 

Anscheinend können im Kanton ZH die sozialen Organisationen, die im klassischen Sinn Dienstleistungen im «stationäres Wohnen» anbieten, nicht Wohnen mit Assistenz anbieten. Was sind die Gründe dafür? 

Matyas Sagi-Kiss: Doch, auch die Wohnheime können, wenn sie das wollen, ambulante Dienstleistungen im Bereich Wohnen anbieten. Freilich müssen sie sich auch auf die hierfür vorgesehene Liste der ambulanten Anbieter setzen lassen. Für die Institutionen ändert sich im Moment nicht viel. Wichtig ist, dass die Arbeit, also die Tagesstruktur, weder de facto noch ausdrücklich vertraglich ans Wohnen gekoppelt sein darf. Das heisst, jemand kann eine Tagesstruktur in Anspruch nehmen, ohne dass er oder sie verpflichtet werden kann, in der gleichen Institution zu wohnen. 

Kannst du mir erzählen, wie das läuft mit den Tarifen?

Matyas Sagi-Kiss: Ich kann dazu nicht viel berichten. Ich gehe davon aus, dass sich das kantonale Sozialamt für ambulante Dienstleistende primär an den Tarifen des Assistenzbeitrages orientiert. 

Und wie läuft der Umgang mit Krisensituationen?

Matyas Sagi-Kiss: Es ist möglich, sich jederzeit zu melden und den Mehrbedarf anzumelden. Bei Behinderungen, die per Definition einen stärker schwankenden Bedarf mit sich bringen, wird meines Wissens versucht, dies ein Stück weit bereits von Beginn an zu berücksichtigen. Alles andere wäre nicht sinnvoll. 

Du sitzst im Rollstuhl und bist damit vom Gesetz direkt betroffen. Wie beurteilst du persönlich das neue Gesetz und wie es jetzt umgesetzt wird? 

Matyas Sagi-Kiss: Es ist gut, dass es dieses Gesetz gibt, denn das alte Gesetz war sehr antiquiert, weil der Fokus lediglich auf das stationäre Wohnen ausgerichtet war. Nun ist mehr Wahlfreiheit möglich, aber es ist noch längst nicht so, wie es sein sollte.

Das heisst, etwas fehlt. Was fehlt?

Matyas Sagi-Kiss: Am Anfang war das Ziel, mit dem SLBG Kostenneutralität zu erreichen. Man hat dann gesehen, dass das nicht realistisch ist. Aber ich befürchte, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in vielen Situationen trotzdem dazu zweckentfremdet wird, die Wahlfreiheit sehr konkret einzuschränken.

Und welche Bedeutung hat das SLBG konkret für dich?

Matyas Sagi-Kiss: Für mich ändert sich nicht so viel, weil ich schon jetzt das Assistenz-Budget habe.

«Gemeinsam werden wir so einen Meilenstein bei der Selbstbestimmung in den Bereichen Wohnen, Arbeiten und Tagesgestaltung erreichen», das ist eine Aussage von Regierungsrat und Sozialminister Mario Fehr über das neue Gesetz. Kannst du mir sagen, was das neue Gesetz punkto Arbeit und Tagesgestaltung neu ermöglicht?

Matyas Sagi-Kiss: Das Gesetz ist so formuliert, dass ein Türchen offengelassen wurde, um auch den Bereich Arbeit zu regeln. Aber in Angriff genommen wird das Thema erst später. Es ist auch gut, dass man nicht alles zur gleichen Zeit anpackt. Der Bereich Wohnen ist schon komplex genug.