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Die Durchlässigkeit bleibt noch ein Traum

(fel) Die beiden Basler Kantone waren Pioniere, als es darum ging, aufgrund der UN-BRK das Behindertenhilfegesetz anzupassen. Erich Oberholzer, Geschäftsleiter des Verbandes Soziale Unternehmen beider Basel (SUbB), gibt Auskunft über Erfolge, Herausforderungen und weitere nötige Entwicklungen.

Im Kanton Basel-Stadt ist das neue Behindertenhilfegesetz (BHG) seit 2017 und das neue Behindertenrechtegesetz (BRG) seit 2019 in Kraft. Wie sieht die Bilanz nach fünf Jahren aus? 

Die Bilanz ist insgesamt positiv. Auch Baselland hat das gleiche Behindertenhilfegesetz. Beide Kantone sind sehr zufrieden; aus Sicht der Institutionen kann man sagen, dass niemand wegen der Umstellung der Finanzierung auf der Strecke geblieben ist; die Übergangszeit ist abgeschlossen. Eine der grössten Errungenschaften, die das Gesetz gebracht hat, ist die Bedarfsabklärung, wo man auf den IHP setzt und damit auf die Sicht der Leistungsbezüger*innen. Dann gibt es die Informations- und Beratungsstellen, INBES, welche die Bedarfserhebung bei den Leistungsbezüger*innen unterstützen, wenn jemand das will. Und wenn die Leistungsbezüger*innen ihre Kostengutsprache haben, können sie sagen, wo sie ihre Leistung beziehen wollen.  
Der zweite wichtige Teil ist das Angebot der ambulanten Wohnbegleitung, die keine IFEG-Leistung darstellt, aber schon vorher finanziert wurde und jetzt im Gesetz verankert wurde, mit der klaren Absicht, dass Personen selbstbestimmter entscheiden können, wie und wo sie mit einer punktuellen Unterstützung und Begleitung wohnen wollen. Dieses Angebot hat sich gut etabliert, insbesondere für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Insgesamt kann man sagen, dass das BHG wesentliche gute Aspekte hat und Wichtiges erreicht wurde; die Umsetzung ist aber noch nicht in allen Punkten so, wie man es gerne hätte. 

Wo steht Baselland mit dem Behindertenrechtegesetz (BRG)?

Im Kanton Baselland tritt das BRG voraussichtlich 2024 in Kraft. Vom inhaltlichen Aufbau her entspricht es dem BRG von Baselstadt, ist aber inhaltlich breiter, weil der Einfluss der UN-BRK viel deutlicher spürbar ist. Die Formulierungen bez. Teilhabe, bez. dem Einfordern der Rechte oder auch bez. Wirtschaftlichkeit/Verhältnismässigkeit sind klarer und prägnanter. Baselland ist damit deutlich weiter und kann anderen Kantonen als Orientierungspunkt dienen. Fünf Jahre Unterschied - das ist ja nicht viel, und dennoch sieht man, wie die UN-BRK jetzt so richtig ins Bewusstsein kommt und Kraft entwickelt. 

Wie funktioniert das Zusammenspiel von Spezialgesetzgebung und Rahmengesetz? Gelingt es, mit Hilfe dieser beiden Gesetze die UN-BRK befriedigend umzusetzen?

So wie die UN-BRK normativ ist für den Bund, ist das Rahmengesetz die Vorgabe auf kantonaler Ebene und betrifft nicht nur die Behindertenhilfe, sondern ist ein Querschnittsthema auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Für die Sicherstellung und Finanzierung der Angebote durch die Behindertenhilfe braucht es ein Spezialgesetz. Inklusion ist nicht möglich ohne beide Gesetze. Ich sehe durchaus ein Potenzial, dass aufgrund des Rahmengesetzes gewisse Dinge neu eingefordert werden können, die über das hinausgehen, was jetzt über das Spezialgesetz geregelt ist. Aber mir ist keine konkrete Situation bekannt, wo jemand versucht (hat), über das Rahmengesetz eine Leistung zu bekommen, die mit dem Spezialgesetz nicht finanziert wird.

Im Kanton SG stehen wir rein zeitlich an einem anderen Punkt. Wir hätten jetzt also die Möglichkeit, beide Gesetze parallel zu entwickeln. Die Kunst wäre dann, das widerspruchsfrei zu konzipieren. Da stellt sich auch die Frage, wie finden wir Lösungen im Spezialgesetz, die sich trotz IFEG gewissermassen bereits an der Zukunft orientieren, und wie man das juristisch lösen kann.

 Ich bin nicht Jurist, grundsätzlich würde ich aber sagen, dass es möglich ist, immer mehr abzudecken und zu regeln, als der Bund vorgibt. Aber dann stellt sich die Frage, was man sich finanziell leisten will oder kann. Sowohl im Bereich Wohnen als auch im Bereich Arbeit wollen nicht alle Kantone Leistungen finanzieren, die sie vom IFEG her nicht finanzieren müssen. Es ist zwingend, dass das IFEG revidiert wird, und die Kantone müssen Druck machen, dass die UN-BRK aufgenommen wird, auch wenn auf nationaler Ebene die Begeisterung dafür noch nicht da ist.

Du hast vorhin gesagt, dass die Umsetzung noch nicht optimal läuft. Woran denkst du da?

Abgesehen von der Bedarfsabklärung mit der Subjektfinanzierung und der Förderung des ambulanten Wohnens, ist das BHG immer noch sehr geprägt vom IFEG. Wenn man die Verordnung anschaut, hat man immer noch die ganze Verwaltungslogik drin, was dem Grundverständnis der UN-BRK diametral entgegensteht. Das System ist noch immer sehr angebotsgesteuert und kontrolliert – ich denke da an Kontingente und Bedarfsplanung. Wenn man vom Ansatz des individuellen Bedarfs ausgeht, müsste die Überprüfung der Finanzierung auf der Wirkung basieren. Da würden sich die Leistungserbringer mehr Freiheiten wünschen, mehr Innovationsförderung und weniger enge Steuerung und Kontrolle.  

Funktioniert bei euch in Basel die Durchlässigkeit mit allen möglichen Abstufungen zwischen Dienstleistungen im Bereich Wohnen, die einen Rund-um-Service von 24/365 beinhalten, und Dienstleistungen, wo nur einzelne Stunden an Begleitung in Anspruch genommen werden?

Die volle Durchlässigkeit ist mit dem jetzigen Gesetz nicht umsetzbar. Die Zweiteilung stationär-ambulant existiert nach wie vor. Die Verordnung enthält eine Begrenzung, bei hohem Betreuungsbedarf ist ambulantes Wohnen nicht möglich. Gerade im Wohnen hat sich für die Nutzer*innen noch wenig verändert. Durch das neue Gesetz ist es nicht zu einem häufigen Wechsel der Wohnsituation oder Auszug aus den Institutionen gekommen. Solche Veränderungen finden nur langsam statt. Primär wird sich die Veränderung bei neuen Nutzer*innen bemerkbar machen, welche weniger oder erst später stationäre Wohnangebote in Anspruch nehmen werden.

Das heisst, das BHG betrifft in erster Linie die neuen Nutzer*innen und für die grosse Mehrheit der Nutzer*innen hat sich nichts verändert.

Ja, und auch für die Institutionen hat sich diesbezüglich nicht viel verändert. Niemand musste schliessen oder ist neu auf den Markt gekommen. Es gibt keinen freien Markt. Der SUbB hat dazu extern eine Studie machen lassen. Der Markt wird von den Kantonen kontrolliert und gesteuert. Eine Institution, die eine erhöhte Nachfrage nach einer Dienstleistung hat, kann nicht einfach das Angebot erweitern. Sie muss zuerst ein Kontingent und die nötige Finanzierung bekommen; wenn aber die Bedarfsplanung des Kantons keinen Mehrbedarf vorsieht, dann wird es schwierig. Der Markt spielt nicht, unabhängig von der Grösse einer Institution. Vielleicht spielt er am ehesten noch in der betreuten Arbeit. Aber der Wechsel in der betreuten Arbeit hat schon immer besser funktioniert als im betreuten Wohnen. 

Das bedeutet, das neue Gesetz hat gar nicht viel verändert.

Ja, diesbezüglich nicht. Das hängt auch mit der Steuerung durch die Kantone zusammen. Man wollte bis jetzt keinen offeneren Markt. Das hat für die Institutionen den Vorteil, dass niemand existenziell bedroht ist, die grosse Angst vor der Deinstitutionalisierung war unbegründet. Die Kehrseite der Medaille ist, dass die Wahlfreiheit sehr begrenzt ist. Man will ein bisschen mehr Wahlfreiheit, aber sehr zaghaft. Die Verwaltungslogik ist nicht kompatibel mit der UN-BRK; dem Paradigmenwechsel mit der Selbstbestimmung stehen ein ausgeprägtes Fürsorgedenken, Steuerung, Kontrolle, der Versorgungsauftrag und die Rechenschaftspflicht gegenüber den Steuerzahler*innen entgegen, was auch nachvollziehbar ist. 

Wie sind eure Erfahrungen mit dem IHP allgemein? 

Der IHP bewährt sich grundsätzlich. Aber das Instrument und der Prozess müssen weiterentwickelt werden. Zudem soll die Position der Leistungsbezüger*innen weiter gestärkt werden. Die Selbstdeklaration soll in der Praxis ein grösseres Gewicht bekommen, indem die Beratung durch INBES bei der Leistungseinschätzung als Unterstützung der Leistungsbezüger*innen vorgelagert eingebaut werden soll. Die Leistungserbringer sollen immer erst nachher ins Spiel kommen, was derzeit nicht immer so gehandhabt wird, weil die Bedarfsabklärung oft von den Leistungserbringern und den Leistungsbezüger*innen gemeinsam gemacht wird. Das ist zwar oft praktisch und bei dringender Aufnahme notwendig. Zudem können die Leistungserbringer den Bedarf, welchen sie sehen, besser deklarieren. 

Ich möchte noch auf das Thema Arbeit zu sprechen kommen. Die Regelung des Arbeitsbereiches im ersten Arbeitsmarkt fehlt auch bei euch im BHG. Das steht in Widerspruch zum Behindertenrechtegesetz, wo die Arbeit als Teilhabe drin ist.

Ja, das ist so. Das Supported Employment (SE) und die agogische Leistung, die dabei erbracht wird, muss vom BHG her nicht finanziert werden und wird dort nicht als Leistung anerkannt, ist aber im BRG drin. Es gibt jetzt ein Pilotprojekt, wo die Leistungserbringer den Auftrag haben zu testen, wie man mehr Menschen mit einer Beeinträchtigung in den ersten Arbeitsmarkt bringt, sie einzeln langfristig agogisch begleitet und unterstützt und wie das finanziell abgegolten werden kann. Das Ziel ist nicht, dass sie die IV-Rente verlieren, sondern sie weiterhin bekommen, vielleicht leicht reduziert, aber dass sie trotzdem im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können und inkludiert sind. 

Und spielt hier die Durchlässigkeit?

Aus Gründen der Wirtschaftlichkeit bzw. Verhältnismässigkeit, die im BRG enthalten ist, gibt es Grenzen. Ab einem gewissen Leistungsbedarf bzw. Behinderungsgrad ist ein Bezug von ambulanten Leistungen kaum mehr möglich. Eine volle Durchlässigkeit kann ich mir momentan noch nicht vorstellen. Dazu sind noch Entwicklungen und Veränderungen in der Behindertenhilfe wie auch im allgemeinen Arbeitsmarkt notwendig.

Der Kanton SG ist im Begriff, das seit 2012 gültige Behindertengesetz zu revidieren. Was können wir von euch lernen? 

Die UN-BRK muss immer wieder als Richtschnur genommen und deren Umsetzung überprüft werden. Rollenklarheit ist wichtig. Man muss immer wieder gut überlegen, mit welchem Hut man etwas anschaut. Es braucht den Einbezug der Dienstleistungsbezüger*innen, weil das sicher stellt, dass die unterschiedlichen Rollen und Perspektiven drin sind. Die Professionellen in der sozialen Arbeit vertreten zwar immer automatisch die Dienstleistungsbezüger*innen mit, was gut gemeint, aber nicht korrekt ist. Die Betroffenenverbände müssen gestärkt werden. Vor allem bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ist das ein grosses Entwicklungsfeld, das mit einer jahrelangen Aufbauarbeit verbunden ist, die der Kanton zu unterstützen und zu finanzieren hat.