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Subjektfinanzierung – eine Gleichung mit vielen Unbekannten

(fel) Die Agogis bietet in regelmäßigen Abständen eine Weiterbildung zum Thema Subjektfinanzierung an. Anfang März fand die letzte Weiterbildung statt, die von Simon Meier und Francesca Rickli von socialdesign geleitet wurde. Wir fassen das Wesentliche zusammen und erlauben uns, auf Quellenangaben zu verzichten:

  • Es findet ein Paradigmenwechsel in der Finanzierung statt, von der Objekt-zur Subjektfinanzierung, der von den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte abgeleitet wird. Es gilt die Menschenrechtsperspektive: Gleiche Rechte für alle. Das Hauptziel ist, Wahlfreiheit und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Individuelle Bedarfsermittlung des behinderungsbedingten Bedarfs – auch aus der Perspektive der Menschen mit Behinderungen - ist zwingend und bedingt einen Ausbau des ambulanten Bereiches des Unterstützungssystems. Die Grundidee ist: von der «umfassenden Betreuung» zur massgeschneiderten und «bedürfnisorientierten Begleitung».
  • Mit dem Systemwechsel wird kein Sonderrecht geschaffen, vielmehr geht es um Gleichstellung. Die betroffenen Personen oder ihre Stellvertretung können zentrale Entscheide im Unterstützungssystem selbst treffen.
  • Handlungsbedarf: Der Schweiz wird vom UN-Ausschuss zur Umsetzung der UN-BRK Aufhol- resp. Handlungsbedarf in unterschiedlichen Bereichen attestiert. Generell fehlt es der Schweiz an einer nationalen Gesamtstrategie und an genügendem Schutz vor Diskriminierung. Beim Wohnen liegt der Fokus zu stark auf institutionellem Wohnen und unzureichenden Unterstützungsleistungen für selbständiges Wohnen. Bei der Arbeit/Ausbildung fehlt ein inklusiver Arbeitsmarkt bzw. genügende Unterstützungsangebote zur Erleichterung des Zugangs zum ersten Arbeitsmarkt.
  • Das sind die Eckwerte einer Subjektfinanzierung: a) Die Finanzierung richtet sich auf den individuellen Bedarf einer Person aus b) Der Bedarf wird zusammen mit dieser Person festgelegt c) Der Bedarf beinhaltet neben dem aktuellen Unterstützungsbedarf auch individuelle Zukunfts- und Entwicklungsziele - methodisch wichtig sind personenzentrierte Ansätze d) Die Person erhält dafür - - unter Beachtung von Subsidiaritäten - die erforderlichen Mittel e) Die Person wählt die erforderlichen Leistungen im Markt frei.
  • Subjektfinanzierung bedeutet für die sozialen Organisationen: a) Bezug von Leistungen durch Menschen mit Behinderungen und/oder ihre gesetzlichen Vertretungen mit erhöhter Kund*innen-/Personenzentrierung b) Fokus auf den individuellen Unterstützungsbedarf und weniger auf die Angebote einer Organisation c) mögliche Anpassungen von Abläufen und Prozessen, der Haltung des Personals, der IT, des Marketings und Kooperationen und des strategisches und operatives Know-hows.
  • Veränderungen, die auf die sozialen Organisationen zukommen: a) erhöhter Positionierungs- und Profilierungsdruck; klareres Profil, welche Leistungen für Klient*innen angeboten werden b) Orientierung am «Markt» / an den Klient*innen c) erhöhter Bedarf, strategische Partnerschaften und Kooperationen aufzubauen d) Marketing-Aktivitäten werden wichtiger e) Subjektfinanzierung bedeutet per se: Umgang mit Unsicherheit; trotz teilweise ungesichertem Wissen ist Planung nötig.
  • Besonderheiten sozialer Organisationen: a) Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens sind «Hybride»: staatliche Mitverantwortung, zivilgesellschaftliches Engagement und Nutzung von Marktelementen verbinden sich; unterschiedliche Ausformung im Spannungsfeld Markt –Staat –Gesellschaft b) sie erbringen staatlich/gesetzlich definierte Leistungen als staatliche Institutionen (kommunal, kantonal), als private Organisationen mit öffentlicher (Teil-)Finanzierung; Organisationen stehen aber auch unter staatlicher Aufsicht/Kontrolle c) sie sind vernetzt und bilden (Dach-)Verbände.
  • Staatliche Rahmenbedingungen bez.  Kontrolle / Aufsicht: a) Bewilligung / Aufsicht, b) Kontrolle bei Beschwerden c) Kontrolle als «Controlling» (z.B. im Rahmen von Finanzierung); es gibt eine Bedarfsanalyse und Angebotsplanung; andere Rahmenbedingungen wie Tarife, Finanzierungssysteme, z.B. was ist anerkannt, was nicht; oder bei interkantonalen Heimaufenthalten (IVSE).
  • Aktuelle Entwicklungen Subjektfinanzierung: Verschiedene Kantone sind unterwegs mit verschiedenen Formen der Umsetzung: a) «Bottom-Up» mit Pilotprojekten und Schritt-für-Schritt Umsetzung, meistens Start mit Finanzierung und Übergängen in ambulanten Bereichen b) «Top-Down» mit Gesetzesprojekt und schrittweise Systemumstellung c) Mischformen.
  • Folgende Elemente sind in den verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten sichtbar: a) Subjektfinanzierung wird in einem bestimmten Geltungsbereich zuerst und dann schrittweise umgesetzt (meist Start Bereich im Wohnen) b) Einrichten Bedarfsabklärungsstelle (entweder verwaltungsintern oder verwaltungsextern) c) Beratung wird in der Subjektfinanzierung z.B. bzgl. Einstufung individueller Bedarf wichtiger d) Aufsicht/Bewilligung wird weiterhin notwendig sein e) es besteht eine Übergangsfrist.
  • Bedarfsabklärungsstelle: Die Abklärungsstelle plausibilisiert und legitimiert den deklarierten Unterstützungsbedarf. Sie entscheidet nicht selbst über die Gewährung von Kostenübernahmegarantien, sondern unterbreitet der dafür zuständigen Stelle eine fachliche Empfehlung. Die Bedarfsabklärungsstelle sollte nach Möglichkeit unabhängig sein, um die nötige Neutralität und Akzeptanz zu gewährleisten. (→ IHP: Individueller Hilfeplan)
  • Beratungsstelle: Es gibt Menschen mit Beeinträchtigung, die Unterstützung beim Ausfüllen der Bedarfserfassung benötigen und die auf Beratung angewiesen sind. Diese Aufgabe wird oftmals von bereits bestehenden und bezeichneten Beratungsstellen wahrgenommen.
  • Es gibt unzählige Spannungsfelder aus Sicht des Staates/Finanzierer, aus Sicht der sozialen Organisationen; aus Sicht der Klient*innen und aus Sicht der Angehörigen/Beistandschaften. Die Bedeutung von Peers wird zunehmen bzw. die Forderungen der Klient*innen müssen besser berücksichtigt werden. Die Rolle gesetzlicher Vertretungen wird sich ändern. Die Leistungsorientierung verstärkt sich bzw. orientiert sich die Finanzierung stärker an den erbrachten Dienstleistungen und dem Wirkungsnachweis bei den Klient*innen.

Fazit: Noch immer werden die Implikationen des Systemwechsels nicht wirklich greifbar, auch wenn einzelne Kantone wie BS/BL schon seit längerem mit der Subjektfinanzierung unterwegs sind. Die Voraussetzungen sind von Kanton zu Kanton verschieden: Jeder Kanton wählt seinen eigenen Weg. Wappnen kann man sich am besten, indem man lernt, falls das nicht bereits selbstverständlich ist, als «agile» Organisation unterwegs zu sein und professionell mit komplexen Veränderungen und Unsicherheiten umzugehen.  Die Realisierung von kleineren oder grösseren Projekten im Bereich privates Wohnen hilft, Erfahrungen zu sammeln und den Transformationsprozess kreativ zu bewältigen.