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Die Vernetzung systematisch ausbauen

(fel) Per 1. Dezember gibt es bei der Behindertenkonferenz St. Gallen-Appenzell eine Stabsübergabe. Der jetzige Geschäftsleiter, Bruno Schnellmann, wird pensioniert und Nina Rofe, Projektleiterin, übernimmt die Leitung der BeKo – ein guter Moment, um die Scheinwerfer auf die BeKo zu richten. 

Bruno, du hast vor knapp zwei Jahren die Leitung der Geschäftsstelle der Behindertenkonferenz St. Gallen-Appenzell übernommen, um das Netzwerk der Selbstvertreter:innen (SV) professionell aufzugleisen. Im Zuge des ersten Teils der Gesetzesrevision oblag dir im Rahmen des Partizipationskonzepts des Kantons die Koordination der beiden Netzwerke, des Netzwerks der Selbstvertrenden und des Netzwerks der Dienstleistenden. Mitte 2023 bekamt ihr von den Kantonen SG, AR und AI den Auftrag, die kantonalen Aktionen der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte zu koordinieren. Ende November 2024 wirst du pensioniert. Wenn du einen Blick zurückwirfst, welches waren die Höhepunkte deiner Arbeit?

Bruno Schnellmann: Ein herausragender Höhepunkt war die Kick-off—Sitzung mit den Menschen mit Behinderung im Februar 2023. Ziel war, ein erstes Mal über die Gesetzesrevision zu informieren. Im Vorfeld gab es viel Vorbereitungsarbeit, wir wussten aber nicht, ob wir überhaupt auf Resonanz stossen würden. Als dann 50 Personen ins Kirchgemeindehaus St. Mangen in St. Gallen kamen, hat uns das enorm gefreut. Dass es uns gelungen ist, nach so kurzer Zeit von Null auf diesen Level zu kommen, war eine sehr schöne Erfahrung. Die Arbeit der Begleitung und des Austauschs mit den Selbstvertreter:innen ist allgemein hochgradig interessant. Eine besondere Herausforderung ist immer wieder die Kommunikation. Alles muss verständlich formuliert sein. Ein zweites Highlight ist meine Nachfolgerin Nina Rofe. Ihre Rekrutierung für die Projektleitung der Nationalen Aktionstage und dass sie sich dann bereit erklärt hat, meine Funktion zu übernehmen, war ein Glücksfall.

Die Vernehmlassung des ersten Teils der Gesetzesrevision steht vor der Tür. Wir wissen also noch nicht, wie das revidierte Gesetz im Detail aussehen wird. Welches sind deine grössten Hoffnungen? Und was sind deine grössten Befürchtungen? 

Bruno Schnellmann: Meine grösste Hoffnung ist, dass die Einbindung der Behindertenrechte gelingt. Im Netzwerk der Selbstvertreter:innen stellten wir höhere Forderungen, als nun voraussichtlich umgesetzt werden. Meine gleichzeitig damit verbundene Befürchtung ist, dass vielleicht nur ein oder zwei Artikel darauf Bezug nehmen und diese dann auch noch vom Kantonsrat zerpflückt werden. In Hinblick auf die ambulanten Dienstleistungen im Bereich Wohnen wünsche ich mir genügend Innovationsgeist, damit die Wahlfreiheit vollumfänglich gewährleistet wird. Entscheidend wird sein, dass es genügend Dienstleisungsanbietende gibt und dass sicher gestellt wird, dass sie ihre Angebote wirtschaftlich erfolgreich gestalten können. Wir werden die Vernehmlassung mit interessierten Mitgliedern des Netzwerks in einer Arbeitsgruppe diskutieren. Es können sich auch weitere engagierte Menschen mit Behinderung für die Mitarbeit in dieser Arbeitsgruppe melden.

Welche konkreten Forderungen vertritt das Netzwerk der SV punkto Gesetzesrevision?

Bruno Schnellmann: Eine wichtige Forderung betrifft das Formular der Bedarfserhebung mit dem Unterstützungsplan. Dieses darf nicht so kompliziert sein wie vorgesehen und muss umfangmässig deutlich reduziert werden. Wenn eine Selbsteinschätzung zu kompliziert ist, wird sie de facto zu einer Fremdeinschätzung. Als zweites müssen die Personen, die den Prozess der Bedarfsermittlung gehen wollen, fachlich gut begleitet und unterstützt werden, sei es durch Peer Berater:innen oder Fachpersonen. Als drittes  muss die UN-BRK gesetzlich sauber verankert sein und schwammige Formulierungen wie «orientiert sich» oder «lehnt sich an» sollen vermieden werden. Im Weiteren müssen die Betroffenen die Finanzierungsmechanismen verstehen und das verlangt eine entsprechende Schulung und die dafür nötigen Ressourcen. 

Wo steht die BeKo heute bezüglich der Vertretung der Selbstvertreter:innen? Was ist heute anders als vor zwei Jahren?

Bruno Schnellmann: Es gab eine riesige Entwicklung. Bis anhin gab es im Kanton St. Gallen verschiedene kleine Gruppen, die nicht vernetzt sind, wie den INSOS Rat, die Selbstvertreter:innen-Gruppe des Kantons oder vereinsinterne Bewohner:innen- oder Mitarbeiter:innen-Räte. Heute existiert eine Vernetzung mit einer breiten Akzeptanz und einem relativ grossen Bekanntheitsgrad, die übergreifend für alle zugänglich ist und niemanden ausschliesst. Das betrifft die Behinderungsart, den Behinderungsgrad und alle Lebensformen, unabhängig davon, wo und wie jemand arbeitet oder wohnt. Wir wollen aber besonders eine Plattform sein für Menschen mit einer kognitiven oder einer psychischen Beeinträchtigung. Zu unserem Auftrag gehört es auch, bei Bedarf einzelne Menschen individuell abzuholen, wenn sie sich z.B. in Gruppen nicht wohlfühlen. 

Nina Rofe: Ja, wir haben jetzt eine gute Basis, um das Netzwerk systematisch auszubauen. Ich bin dabei, viele Organisationen und SV-Gruppen zu besuchen und persönliche Kontakte aufzubauen. Personen, die bereits im Netzwerk sind, bringen wiederum andere Leute mit, und so entsteht langsam eine Bewegung mit viel Eigendynamik. Gleichzeitig sind wir dabei, den Verein bekannter zu machen und zusammen mit dem Vorstand unser Profil zu schärfen. Wir unterscheiden zwischen dem Verein, wo alle Mitglieder werden können, sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen mit und ohne Beeinträchtigung, und dem Netzwerk der Betroffenen, das wir nun kontinuierlich auf- und ausbauen. 

Nina, du arbeitest seit einem Jahr bei der BeKo. Du warst in erster Linie für die Koordination der Nationalen Aktionstage Behindertenrechte in SG, AR und AI verantwortlich. Die Aktionstage liegen nun einige Monate zurück. Wie beurteilst du die Wirkung der Aktionstage? Hat sich der Aufwand gelohnt?

Nina Rofe: Es ist nicht möglich zu sagen, welche Wirkung die Aktionstage auf die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigung in der breiten Bevölkerung hat. Aber das «Gold» der Aktionstage ist die Stärkung des Netzwerks, das sich dank der Gesetzesrevision bereits entwickelt hatte und jetzt noch einmal an Kraft gewonnen hat. Man kennt sich jetzt noch besser, es hat noch einmal neue Kontakte gegeben, es sind neue Vernetzungen entstanden. Das hat sich sehr gelohnt. Und das Timing im Verhältnis zu den Arbeiten bezüglich Gesetzesrevision hat prima gepasst. Ich würde also von einer Wirkung nach innen reden und ich hoffe, dass daraus neue Projekte entstehen, die auch nachhaltig sind.  

Ihr wart ja nicht nur für die Aktionstage im Kanton SG verantwortlich, sondern auch in den beiden Appenzell. Ich stelle mir vor, dass der Kanton AR an einem ganzen anderen Ort steht. Mir ist nicht bekannt, dass der Kanton AR sehr progressiv unterwegs ist.

Nina Rofe: Ja, der Kanton SG ist sehr gut unterwegs. Im Kanton AR ist der Groove anders und es gibt es noch kein Netzwerk der Selbstvertreter:innen; das müssen wir erst aufbauen. Im Kanton SG gab es schon früh auf vielen verschiedenen Ebenen viele Initiativen, die zum Ziel haben, die Selbstvertretung der Betroffenen zu stärken. Ihr habt schon viele Jahre den INSOS Rat; ihr habt auch einen UN-BRK-Aktionsplan erarbeitet; dann feiert der Verein Mensch zuerst, der in Rorschach entstanden ist, nun sein 10-Jahr-Jubiläum; Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell hat die Fachstelle «Augenhöhe» zur Förderung von Selbstvertretung gegründet; auch die OST ist sehr aktiv und der Kanton SG hat schon früh angefangen, Dokumente in Leichte Sprache zu übersetzen und hat seinerseits in verschiedenen Formen die Partizipation und Teilhabe der Betroffenen gestärkt. Letzten Endes ist auch die heutige Finanzierung der BeKo Ausdruck davon. Man spürt auch, wie die St. Galler Selbstvertreter:innen stolz auf ihre Arbeit sind und teilweise selbstbewusst und hartnäckig fordern, dass nichts ohne sie entschieden wird oder es dezidiert zum Ausdruck bringen, wenn in schwieriger Sprache über ihre Köpfe hinweg geredet wird. Erschwerend für den Kanton AR ist sicherlich, dass die Gestaltung von Teilhabe für Menschen mit komplexer Beeinträchtigung sehr viel anspruchsvoller ist. 

Ihr hattet Mitte September ein erstes Netzwerk-Treffen, bei dem es nicht um die Gesetzesrevision ging. Was waren die Resultate dieses Treffens? Sind eure Erwartungen erfüllt worden?

Nina Rofe: Die bisherige Arbeit war vor allem geprägt von Aufträgen, die von aussen kamen. Jetzt können wir unseren Fokus verlagern und mit den Selbstvertreter:innen in einen Prozess gehen, wo wir die Themen, die sie am meisten beschäftigen, gemeinsam mit ihnen bearbeiten. Wir verstehen uns dabei nicht als Beschwerdestelle, sondern wir wollen gemeinsam mit den Betroffen aktiv etwas umsetzen und ihre Selbstwirksamkeit stärken. Absicht ist, in drei Arbeitsgruppen zu arbeiten, die sich bestimmten, von ihnen selbst gewählten Themen zu der UN-BRK widmen. Die Arbeitsgruppen haben klare Zielsetzungen und sind befristet; sie lösen sich wieder auf, wenn das Ziel erreicht wurde. 

Welches sind die drei Themen, an denen ihr arbeiten wollt?

Nina Rofe: Von den Teilnehmenden am Netzwerktreffen haben wir die Themen Arbeit, Peer und die Gesetzesgrundlage von Assistenzhunden aufgenommen. Wir werden nun bei allen Mitgliedern des Netzwerks anfragen, ob und wenn ja, in welcher thematischen Arbeitsgruppe sie mitarbeiten möchten. Danach organisieren und moderieren wir die Sitzungen der Arbeitsgruppen und protokollieren die Resultate. Die Gruppen setzen sich die Ziele selber und bestimmen die Kriterien für die Zielerreichung. Wie in unserem Leitbild formuliert, bündeln wir die Meinungen und Haltungen der Menschen mit Behinderung.

INSOS SG-AI unternimmt ja auch einiges punkto Teilhabe von Menschen mit Unterstützungsbedarf. Wir haben vor knapp zehn Jahren den INSOS Rat aufgebaut, 2022 kam der Stammtisch und im Februar 2025 organisieren wir eine inklusive Tagung zum Thema Wohnen. Wir sind sehr daran interessiert, Synergien mit euch zu nutzen. 

Nina Rofe: Wir sind grundsätzlich offen, Partnerschaften aufzubauen und können uns eine engere Kooperation bzw. Zusammenarbeit mit euch sehr gut vorstellen. Wir machen die Erfahrung, dass die Mitglieder des INSOS Rats sehr stolz auf den INSOS Rat sind und erachten das als ein wertvolles Gremium. Bei euch geht es um verbandsspezifische Themen und um die Zielgruppe der Leistungsnutzenden von Leistungen der Mitgliedsorganisationen von INSOS. Bei der BeKo werden alle Themen bearbeitet, die Selbstvertreter:innen  bestimmen die Themen komplett selbst und die Zielgruppe sind alle Menschen mit Behinderung. Und, wie wir es oben gesagt haben, lösen sich die Arbeitsgruppen im Unterschied zu euch wieder auf, wenn eine Fragestellung bearbeitet wurde. Von daher ist es sinnvoll, dass es beide Gremien gibt. Schön, dass einzelne Mitglieder des INSOS Rats auch im Netzwerk de BeKo vertreten sind. Es geht uns allen um die Umsetzung der Rechte der Betroffenen und dabei gibt es viel Raum, den wir gemeinsam gestalten und bespielen können. 

 

Für Leser:innen, welche die Leichte Sprache besser verstehen, gibt es ein Interview über die BeKo zu hören und sehen. Pascal Titeux, Reporter von Easyinfo, interviewt Nina Rofe. Pascal Titeux ist auch Mitglied des INSOS Rats. Das hier ist der Link: «Gemeinsam sind wir stärker» –infoeasy (infoeasy-news.ch)