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Der Verwaltungsaufwand darf nicht zunehmen
(fel) im Mittelpunkt der laufenden Gesetzesrevision im Kanton SG stehen die neuen ambulanten Dienstleistungen. Die Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell bietet schon seit mindestens 20 Jahren Begleitetes Wohnen an. Derzeit werden im Kanton St. Gallen ca. 210 Personen pro Jahr begleitet bzw. beträgt das Volumen an Klient:innen-Stunden rund 6000 Stunden.
Der Vernehmlassungsprozess in Zusammenhang mit der Gesetzesrevision läuft. Dabei seid ihr und wir als Dienstleistungserbringer im Bereich Wohnen vom Nachtrag I besonders betroffen, da es bei diesem um das ambulante Wohnen geht. Mich würde interessieren, wie du als Leiterin des Begleiteten Wohnens das neue Gesetz beurteilst.
Sappho Wieser: Für uns ist das neue Gesetz die richtige Stossrichtung, weil die Umsetzung der UN-BRK im Zentrum steht. In der Botschaft wird die Ausgangslage mit allen Fakten detailliert beschrieben und das Ganze ist eine gute Auslegeordnung. Was wir kritisch betrachten, ist die Bedarfsermittlung. Wir sind jetzt einigermassen schlank unterwegs und ich befürchte, dass die Bedarfsermittlung sehr viel aufwändiger und viel «administrationslastiger» wird und die Abläufe weniger flexibel sind verglichen mit unserem heutigen System. Das wird zur Folge haben, dass weniger schnell auf sich verändernde Bedürfnisse der Klient:innen reagiert werden kann und man die Anzahl Stunden nicht einfach so nach oben oder unten anpassen kann.
Wie ermittelt ihr heute den Bedarf?
Sappho Wieser: Wir haben einen dreiseitigen Fragebogen mit verschiedenen Themenbereichen. Nach einer ersten groben Einschätzung beginnen wir sozusagen einfach mal mit der Begleitung. Wir probieren mit den Klient:innen aus, ob die Einschätzung stimmig ist und je nachdem passen wir die Stundenzahl relativ schnell an. Das bedeutet auch, dass wir, sobald sich die Bedürfnisse der Klient:innen verändern, Korrekturen sehr zeitnah vornehmen können. Wir machen zudem die Erfahrung, dass die Klient:innen ihren Bedarf sehr gut selber einschätzen können. Der Fragebogen, wie er im Pilotprojekt WUP verwendet wurde, ist viel zu umfangreich, was eine abschreckende Wirkung haben kann. Und die Fremdbeurteilung bekommt grundsätzlich ein zu grosses Gewicht, was nicht echter Augenhöhe entspricht, so wie wir sie verstehen.
Könnte dies damit zusammenhängen, dass das begleitete Wohnen, so wie wir es kennen, sich auf Unterstützung bei Fragen, die unmittelbar und direkt das Wohnen betreffen wie Haushalt führen, Kochen, Putzen etc. beschränkt, und dass aber mit Art. 19 der UN-BRK eine Wahlfreiheit beim Wohnen gemeint ist, die u.U. die ganze Lebensgestaltung inkl. Freizeitgestaltung impliziert und nicht nur den Personen mit IBB 0, 1 oder 2 vorbehalten ist, sondern im Grundsatz bei allen Menschen mit Beeinträchtigung gewährleistet sein sollte?
Sappho Wieser: Ja, sicher, ist es so, dass sich mit dem neuen Gesetz der Adressatenkreis vergrössert und auch weniger selbständige Personen das Begleitete Wohnen in Anspruch nehmen können. Aber ich bin trotzdem überzeugt, dass es für die Bedarfsermittlung nicht 34 Seiten braucht. Dann werden im Fragebogen vom Pilotprojekt WUP sehr private, ja intime Fragen gestellt, die niemanden etwas angehen. Wir als Begleiter:innen müssen nicht alles wissen.
Es besteht ja keine Pflicht, alle Fragen zu beantworten.
Sappho Wieser: Fragen nicht zu beantworten, erfordert Mut von den Betroffenen, vor allem wenn man Geld will, und gerade Personen, die aus dem stationären Bereich kommen, sind es gewohnt, auf jede Frage eine Antwort zu geben und getrauen sich zu wenig, auch einmal zu sagen, dass eine Frage zu privat ist. Da eine Grenze zu setzen, braucht sehr viel Selbstbewusstsein.
Wir sind uns in der Branche einig, dass die jetzigen „Zum-Beispiel-Tarife“ der neuen ambulanten Dienstleistungen, die in der Botschaft zum Gesetz genannt werden, nicht kostendeckend sind. Teilst du diese Einschätzung?
Sappho Wieser: Der Kanton Zürich hat zurzeit für die Fachleistung im SEBE Fr. 112.-, was offenbar für die Finanzierung ausreicht. Mit 105.- Franken sind wir nicht weit davon entfernt. Aber es wird schwierig sein, Fachleistungen und Assistenzleistungen zu unterscheiden. Auch während dem «Tun» - zum Beispiel gemeinsam Fensterputzen, was eine Assistenzleistung ist - kann eine Beratung erfolgen, was manchmal zielführender ist als eine Besprechung am Tisch. Wie diese Unterscheidung bei der Umsetzung ohne grossen Aufwand erfasst werden kann, wissen wir nicht. Die Wegkosten sind in der Botschaft ein grosses Thema, was uns indessen weniger betrifft, weil unsere Mitarbeitenden im ganzen Gebiet der Kantone SG, Al, AR und GL verteilt wohnen und sie meistens nicht länger als 15 Minuten brauchen, bis sie bei den Klient:innen sind.
Und du gehst davon aus, dass die ganzen Overhead-Kosten, die Kosten für Sitzungen, Weiterbildungen, Supervision etc. mit den in der Botschaft genannten Tarifen abgedeckt sind und dass kein Defizit droht?
Sappho Wieser: Mit dem Tarif können wir leben, aber ein Mischtarif oder ein Einheitstarif wäre uns lieber, weil wir immer beides machen.
Du hast vorher gesagt, dass du befürchtest, dass der administrative Aufwand enorm zunehmen wird. Kannst du beziffern, wie viel der administrative Aufwand jetzt ungefähr ausmacht?
Sappho Wieser: Ich würde sagen, 10-15 Prozent, für die Führung des Dossiers, die Abrechnung, mit Sitzungen, Intervision etc. Im Dossier wird lediglich sporadisch festgehalten werden, wie der Auftrag umgesetzt wird. Wir machen Alltagsunterstützung, da braucht es keine psychologischen Abhandlungen.
Aber in diesen 10-15 Prozent sind die Koordinationsaufgaben, sprich deine Stelle und jene eurer zwei Koordinator:innen von ca. 150 Stellenprozenten, nicht enthalten. Wie finanziert ihr den Koordinationsaufwand bzw. das damit verbundene Defizit?
Sappho Wieser: Die Pro Infirmis übernahm bis jetzt die Restkosten und macht Mittelbeschaffung.
Die tiefen Tarife haben wohl auch damit zu tun, dass der Kanton davon ausgeht, dass bei den Fachleistungen z.B. eine Ausbildung als FaBe reicht und es nicht überall Sozialpädagog:innen braucht. Ihr bietet schon seit vielen Jahren das Begleitete Wohnen an. Entspricht dies euren Erfahrungen?
Sappho Wieser: Wir haben ein sehr gemischtes Team: Das sind FaBe, Absolvent:innen der Schule für Sozialbegleitung, Sozialpädagog:innen HF oder Agogis. Die Sozialpädagog:innen müssen bei der Begleitung keine sozialpädagogischen Konzepte umsetzen, sondern den Auftrag umsetzen, den uns die Klient:innen geben. Die Verantwortung bleibt immer ganz klar bei den Klient:innen und darf nicht von unseren Mitarbeitenden übernommen werden. Selbstbestimmung auch in kleinsten Dingen ist sehr wichtig. Für die meisten, die im stationären Bereich arbeiten, ist es eine grosse Herausforderung, den Hut zu wechseln. Zum Glück sind die Klient:innen oft sehr selbstbestimmt unterwegs und wehren sich, sobald sie das Gefühl von Fremdbestimmung oder anderen kleinen Grenzverletzungen spüren. Prädestiniert für die Begleitung sind eigentlich die Personen mit einer Ausbildung der Schule für Sozialbegleitung.
Fachleistungen können auch von FaBe’s erbracht werden. Angenommen, jemand durchlebt gerade eine Krise. Sind die FaBe’s bei einer Krisenintervention nicht überfordert?
Sappho Wieser: Man weiss grundsätzlich nie zum vorneherein, was einen hinter der Tür erwartet. Es kann sehr wohl sein, dass es gerade eine Krisenintervention braucht. Darum müssen beide Leistungen mit der gleichen Person abgedeckt werden können. Das dient zudem der Kontinuität der Beziehung. Falls eine Situation die Fähigkeiten einer Person übersteigt, arbeiten wir mit der Psychiatrie-Spitex zusammen. Das kann z.B. bei einer Klinikeinweisung sein oder auch im Alltag. Sie arbeitet dann therapeutisch und wir machen die alltagspraktische Unterstützung. Was sehr wertvoll ist, ist die Lebenserfahrung der Begleiter:innen; diese ist oft wichtiger als die Ausbildung.
Wir bieten am 12. Februar eine inklusive Tagung zum Thema Wahlfreiheit beim Wohnen an. Dabei wird es in Bezug auf das Fachpersonal auch um die Frage gehen, wie sich deren Rolle und deren Berufsverständnis ändern wird, wenn ihre Organisationen die neuen ambulanten Dienstleistungen anbieten werden. Welche anderen Kompetenzen wird es in Zukunft brauchen?
Sappho Wieser: Kompetenzen wie Abgrenzung, Beratung, Verantwortung zurückgeben, nicht aus den Augen verlieren, was «normal» ist im Sinne von, dass wir die Klient:innen nicht überbetreuen oder überfürsorglich sind. Ganz wichtig ist es, es aushalten zu können, wenn wir sehen, dass eine Entscheidung der Klient:innen möglicherweise falsch ist. Die Klient:innen müssen Fehler machen dürfen und können – gerade über schlechte Erfahrungen – Neues lernen. Wir informieren sie natürlich, welche Konsequenzen eine Entscheidung nach sich zieht, und bieten alternative Möglichkeiten an, aber die Klient:innen treffen die Entscheidung. Es gibt ein Zitat von Raul Krauthausen, das sinngemäss heisst: «Menschen mit Behinderungen ihre eigenen Erfahrungen und Niederlagen nicht machen zu lassen, ist das Schlimmste, was wir tun können.» Das gehört zur Haltung, die es beim Begleiteten Wohnen braucht. Aber es ist auch ein Fakt, dass wir im ambulanten Wohnen jetzt nicht Leute mit IBB 3 oder 4 haben. Das macht natürlich einen grossen Unterschied.
Im IVSE-Bereich gibt es eine 40-seitige Vorgabe mit Qualitäts-Richtlinien, die erfüllt werden müssen. Diese Q-Richtlinien werden derzeit überarbeitet, betreffen aber nach wie vor nur den IVSE-Bereich. Wir sind sehr neugierig, welche Qualitätsvorgaben wir ab dem 01.01.2027 erfüllen müssen. Kannst du uns sagen, was bei euch derzeit vom Kanton oder vom Bund verlangt wird?
Sappho Wieser: Wir müssen die Vorgaben des BSV gemäss KSBOB, Anhang 3, Strukturqualität, Prozessqualität, Ergebnisqualität erfüllen. Diese gelten auch für den Leistungsvertrag, den wir mit dem Kanton haben.
Und wer kontrolliert, ob ihr die Qualitätsvorgaben erfüllt: Der Bund? Der Kanton?
Sappho Wieser: Wir haben ein internes Kontrollsystem, kontrollieren die Aktenführung und machen Stichproben gemäss den Regeln der Aktenführung. Dazu gehört z.B. auch eine Befragung der Klient:innen in regelmässigen Abständen. Das ist alles bei den qualitativen Bedingungen beschrieben.
Das heiss, ihr kontrolliert euch selbst?
Sappho Wieser: Ja.
Wir wissen von Organisationen, die z.B. beim Projekt WUP mitmachen, dass es nicht einfach ist, Wohnungen zu finden, sei es, dass sie nicht bezahlbar sind, sei es, dass sich die Vermieter:innen scheuen, allenfalls Personen mit auffälligem Verhalten bei der Vergabe einer Wohnung zu berücksichtigen. Welches sind eure Erfahrungen mit der Wohnungssuche?
Sappho Wieser: Je nach Region gestaltet sich die Suche als einfacher oder schwieriger. Zurzeit ist die Situation in Sargans eher schwierig. Etwas Geduld braucht es immer, aber auch in Rapperswil und in Wil war es möglich, in relativ kurzer Zeit eine Wohnung zu finden. Mit den neuen EL-Beträgen von Fr. 1420.- resp. Fr. 1525.-, die ab nächstem Jahr gelten, entspannt sich die Situation noch einmal. «Auffällige Personen» können wir bei der Wohnungssuche begleiten, wir übersetzen bei den Gesprächen mit den Vermieter:innen und die Sicherheit, dass IV und El für die Miete reichen, sind oft hilfreiche Argumente. Wir merken aber auch, dass es diesbezüglich zunehmend schwieriger wird. Es gibt viele Vorurteile den Menschen mit Behinderungen gegenüber. Grosse Verwaltungen sind meist einfacher. Wenn wir die Erlaubnis der Klient:innen haben, die Vermieter:innen gemeinsam zu informieren, wie unsere Unterstützung sein könnte, erleben wir in der Regel aber viel Wohlwollen. Es kann aber auch im Nachhinein zu Kündigungen kommen, bei einer Verwahrlosung zum Beispiel, was schlimm ist, aber letzten Endes hat ein Mensch auch das Recht auf Verwahrlosung, wie es ein Beistand einmal formuliert hat.
Eine der grössten Sorgen, die unsere Branche umtreibt, ist, was mit den Leerständen (Zimmer, Etagen oder ganze Häuser) passieren soll, wenn Leute ausziehen bzw. freiwerdende Plätze nicht mehr besetzt werden können. Kreative Ideen sind also gefragt. Kennst du aus deiner Praxis Bedürfnisse der Klient:innen, für deren Befriedigung die bestehenden Infrastrukturen die idealen Voraussetzungen bieten könnten?
Sappho Wieser: Ein grosses Bedürfnis sind Wohngemeinschaften, die selbstorganisiert sind, also ohne Heimtaxe funktionieren und wo man die Mitbewohnenden selbst auswählen kann. Not tut z.B. ein «Parkinson-Haus», wo sich v.a. jüngere Betroffene mit Assistenz zusammentun, gemeinsam Assistenzpersonen anstellen und so zusammen von mehr Stunden/mehr Präsenz profitieren könnten. Eine Etage oder ein Hausteil könnte an sie vermietet werden, ev. sogar mit Assistenz durch Angestellte aus der Institution, wenn diese den Betroffenen passen. Denn es darf nicht sein, dass junge Parkinson-Patient:innen mangels anderer Möglichkeiten in ein Pflegeheim gehen müssen.