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Inklusive Strategieentwicklung als Grundlage für Innovation

(fel) Im Entwurf des Planungsberichts 2024-2026 hat der Kanton SG als Ziel formuliert, dass sich die Dienstleistenden „strategisch fit“ machen müssen für die kommenden Entwicklungen. Urs Baumgartner, Dozent für Arbeitsagogik bei der Agogis, ist auch Unternehmensberater und Organisationsentwickler und bietet Workshops für „inklusive Strategieentwicklung“ an. 

Partizipation ist in deinem Verständnis also nicht nur bei der Pausenverpflegung gefragt, sondern auch auf der strategischen Ebene.

Urs Baumgartner: Ganz genau. Bei einer Strategieentwicklung müssen grundsätzlich alle wesentlichen Stakeholder-Gruppen einbezogen werden. In unserer Branche gehören die Klient:innen als Dienstleistungsnutzende – zum Beispiel beim Wohnen oder in der Rolle als Erbringer:innen einer Arbeitsleistung - auch dazu. Sie sind „am Puls“ und können ihre Erfahrungen aus erster Hand einbringen. Die Berücksichtigung ihre Bedürfnisse fördert die intrinsische Motivation und ist eine optimale Grundlage für Innovation. 

Einen Strategieprozess inklusiv zu gestalten ist anspruchsvoll, da man es mit einer maximalen Heterogenität der Stakeholder zu tun hat. Wie soll man sich das vorstellen?

Urs Baumgartner:  Wenn die Handlungs- bzw. Strategiefelder definiert sind, an denen gearbeitet werden soll, werden diese in einem Bottom-up-Prozess in gemischten Gruppen analysiert, diskutiert und Strategieansätze erarbeitet, bevor die Steuergruppe bzw. die operative Leitung Massnahmenpläne für die Umsetzung erarbeitet. Hier ist es gut, wenn auch die strategische Ebene bereits vertreten ist. In dieser Phase muss auch geprüft werden, ob die Strategie mit der kantonalen Planung übereinstimmt. In der letzten Phase hinterfragt danach der Vorstand die bisherige Planung und definiert die konkrete Strategie. Und natürlich kann man nicht immer die schwierigsten Handlungsfelder wie die Finanzen nehmen, sondern man fokussiert sich vor allem auf jene, welche die Klient:innen direkt betreffen und bricht den Schwierigkeitsgrad herunter. Wobei auch die Finanzen transparent und verständlich zugänglich gemacht werden sollten. Auch für das Fachpersonal ist das absolut notwendig.

Was sind die Voraussetzungen, dass ein solcher Strategieprozess gelingt?

Urs BaumgartnerEs braucht eine Offenheit der Trägerschaft, sich auf einen Prozess mit den Klient:innen einzulassen und als Organisation echt inklusiv sein zu wollen. Lediglich einen Bewohner:innen- oder einen Mitarbeiter:innen-Rat zu installieren genügt nicht. Der Einsatz von einfacher oder leichter Sprache steht vor allem am Anfang im Zentrum, hilft aber auch danach enorm für die Verankerung. Und natürlich braucht es eine Offenheit für alle Punkte der UN-BRK, insbesondere für jene, die für die sozialen Unternehmen völlig neu sind wie in den beiden Bereichen Arbeit und Wohnen. 

Wie selbstverständlich sind inklusive Strategieentwicklungen in anderen Branchen? 

Urs Baumgartner: Die Methode des Real Time Strategic Change ist vor allem bei innovativen und grossen Organisationen heute schon weit verbreitet. Basis dieser Methode ist die Erkenntnis, dass Wandel effizient gelingt, wenn alle Stufen und Anspruchsgruppen aktiv miteinbezogen werden. Man arbeitet meist mittels Grossgruppenveranstaltungen zu Beginn und am Schluss sowie mittels gemischter Projektgruppen.

Kannst du uns von einem guten Beispiel erzählen, und zwar wenn die Klient:innen kognitiv oder mehrfach beeinträchtigt sind.

Urs Baumgartner: Es ist sehr empfehlenswert, bei der Standortbestimmung einen Rückblick einzubauen: Welche Erlebnisse und Geschichten haben uns geprägt? Wenn man einen Wandel initiieren will, muss man die Geschichte aufnehmen. In der Geschichte liegen viele Antworten auf die Zukunft und auch die Kraft, sich auf die Zukunft hin zu bewegen. Wertschätzung hilft, sich zu öffnen. Ebenso leichte Sprache und unterstützte Kommunikation. Danach diskutieren wir unsere Wünsche. Was ist heute wertvoll? Wo gibt es Punkte, die verbessert werden müssen? Wie stellen wir uns unsere Zukunft vor? Ich erinnere mich an enorm spannende Prozesse, wo unglaublich viel an innovativer Kraft freigesetzt und danach von der Projektgruppe aufgegriffen und umgesetzt wurde. Man darf einfach nichts über die Leute stülpen. 

Der Kanton SG hat als Ziel im Entwurf seines Planungsbericht formuliert, dass sich die Dienstleistenden „strategisch fit“ machen müssen für die kommenden Entwicklungen. Du arbeitest auch für Agogis als Dozent und bist am Puls der Zeit bzw. hast du indirekt Einblick in viele Betriebe. Wo besteht aus deiner Sicht am meisten Handlungsbedarf?

Urs Baumgartner: Die sozialen Organisationen sollten ein echter Spiegel der heutigen Gesellschaft sein, d.h. zum Beispiel, dass die Arbeitsmöglichkeiten bei ihnen auch den Arbeitsmarkt von heute abbilden sollten. Es sollten also keine neuen – und teuren - Werkstätten mehr gebaut werden, wo einfachste Handarbeiten erbracht werden, die sonst nirgends mehr auf dem Arbeitsmarkt erbracht werden. Wir sind heute eine Dienstleistungsgesellschaft, und auch im geschützten Arbeitsbereich gibt es Potenzial für neue Dienstleistungen und integrative Arbeitsplätze im Umfeld der Klient:innen.

Woran denkst du da?

Urs Baumgartner: Es wären viel mehr Kooperationen möglich mit Schulen oder Altersheimen. In fast jeder Branche gibt es Möglichkeiten bis hin zu social media. 

Der Trend geht aber dahin, dass es immer mehr Plätze im Bereich Tagesstruktur ohne Lohn (TSoL) braucht, dass also die Leistungsfähigkeit geringer wird bzw. instabil ist und viele Menschen mit Unterstützungsbedarf da überfordert wären. 

Urs Baumgartner: Auch die Angebote in der TSoL sollen ein Spiegel der Gesellschaft sein. Es geht ja nicht primär um den materiellen Wert, der mit der Arbeit verbunden ist, sondern um den sozialen, psychischen oder ethischen Wert, der z.B. über die soziale Einbindung im Quartier oder über Kreativität im kulturellen Bereich oder in der Kunst vermittelt werden kann. Der Begriff Arbeit soll sehr weit gefasst sein, auch Naturangebote oder Vereinsarbeit gehören dazu. 

Es gibt mittlerweile viele Betriebe, die mit Altersheimen oder anderen Betrieben zusammenarbeiten. Je nach Bedürfnis oder Belastbarkeit arbeiten unsere Klient:innen tageweise im ersten Arbeitsmarkt und sind aber im zweiten Arbeitsmarkt angestellt. Der Fachkräftemangel erhöht den Zeitdruck, was die Bereitschaft, Menschen mit Unterstützungsbedarf einzubinden, kaum erhöhen wird. 

Urs Baumgartner: Nichtsdestotrotz bin ich überzeugt, dass das Potenzial riesig ist, neue, inklusive und integrative Angebote im Bereich Arbeit zu entwickeln. Voraussetzung ist natürlich auch, dass die FaBe’s und Sozialpädagog:innen bzw. Arbeitsagog:innen flexibel sind und bereit sind, die Klient:innen ausserhalb der eigenen Organisation in komplett anderen Settings zu begleiten. Ich bin sicher, dass sich viele Berufsprofile in naher Zukunft verändern werden. Und umgekehrt sollte es normal werden, dass unsere Betriebe auch inklusiv werden, so dass z.B. Schreiner:innen ohne Beeinträchtigung bei uns wie im ersten Arbeitsmarkt arbeiten können, nicht als Agog:innen in einer Werkstätte, sondern als Fachleute in einem normalen Betrieb, Seite an Seite mit unseren Klient:innen. Jede Abteilung wäre dann ein kleines Profitcenter, wo wertschöpfende Arbeit im Zentrum steht.

Verhindern die jetzigen Strukturen – auch punkto Finanzierung – nicht auch die Neuausrichtung?

Urs Baumgartner: Ja, gewiss. Schon im Jahr 2009 zeigte eine Studie der FHS Luzern, die sie für den Kanton St. Gallen gemacht hatte, dass Menschen mit IBB 1 gut im begleiteten und nicht nur im betreuten Wohnen leben können. 15 Jahre später stehen wir fast am gleichen Ort, weil die Finanzierungslogik immer noch die gleiche ist. Mit der Subjektfinanzierung, die jetzt z.B. Anfang Jahr im Kanton Zürich eingeführt worden ist, ist nun aber die Basis für selbstbestimmtes Wohnen in allen Formen bestens gelegt. Die hohe Auslastungsquote im Kanton SG bildet natürlich auch eine Hürde. Da ist es nicht verwunderlich, wenn die Organisationen ihre Klient:innen behalten wollen und nicht begeisterte Brückenbauer:innen in den ersten Arbeitsmarkt und ins begleitete Wohnen sind. Aber gerade darum ist eine inklusive Strategieentwicklung so wertvoll: Wenn man die Bedürfnisse der Klient:innen ernst nimmt, kann daraus sehr viel Kraft und Motivation für Veränderung entstehen. 

Das heisst, sich strategisch fit machen, im Sinne, dass auch wirklich Neues entsteht, ist für die Organisationen nur möglich, wenn die Rahmenbedingungen entsprechend ausgestaltet sind?

Urs Baumgartner: Ja. Aber auch das stimmt: Pionier sein kann man auch trotz Hürden.