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Mehr Empowerment mittels Weiterbildung

(fel) Seit der UN-BRK-Aktionsplan von INSOS SG-AI verabschiedet wurde, arbeitet die UN-BRK-Begleitgruppe an der Umsetzung der verschiedenen Ziele und Massnahmen. Dazu gehört auch das Thema Empowerment der Klient:innen, und zwar via Bildung. Was sich so einfach anhört, entpuppt sich als hürdenreicher Weg.

Im Aktionsplan UN-BRK 2019-2024 von INSOS SG-AI steht beim Handlungsfeld 3 / Empowerment der Klient:innen als Ziele, dass diese befähigt werden, ihr Potenzial auszuschöpfen und dass sie ihre Rechte bez. UN-BRK kennen und wissen, wie man sie einfordern und durchsetzen kann. Angedacht war schon damals, entsprechende Kurse bei Bildungsanbietern in Auftrag zu geben. Im Jahr 2022 machte INSOS SG-AI eine Umfrage bei den Klient:innen, um herauszufinden, welche Kursthemen sie interessieren, um die beiden Ziele zu erreichen. Der Rücklauf war erfreulich: 218 Personen beantworteten die Umfrage. 

Hürden für Weiterbildung

Als der Bildungsklub Alpstein der Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell beauftragt werden sollte, die meistgewünschten Themen in dessen Bildungsprogramm aufzunehmen, wurde schnell erkannt, dass es einige Hürden gibt, das Vorhaben umzusetzen. Absicht war, dass möglichst viele Klient:innen aus allen Organisationen die Kurse miteinander hätten besuchen können, damit auch der Austausch und die Vernetzung untereinander möglich gewesen wäre. Damit kamen Abendkurse nicht in Frage: Wenn der Kurs nicht im eigenen Dorf oder in der eigenen Stadt stattfindet, müssen lange Reisen in die Organisation zurück in Kauf genommen werden, was nach Kursende am Abend schwierig ist. Aber auch energie- und kräftemässig sind Kurse am Abend suboptimal. Kurse am Wochenende als Alternative? Auch das funktioniert nicht, wenn man mit Fortsetzungs- oder Intensivkursen arbeiten will. Denn es gibt nicht wenige Klient:innen, die in unterschiedlichem Rhythmus ihre Angehörigen besuchen, und dies hat für sie oberste Priorität. Organisatorisch ist das nicht befriedigend zu bewältigen. Für den Bildungsklub sind zwar Kurse am Morgen oder Nachmittag während der Woche nicht tabu, er scheitert aber in der Regel mit entsprechenden Ausschreibungen, weil Kurse im Bereich allgemeine Erwachsenenbildung während der Arbeitszeit bei einigen Dienstleistenden als Arbeitgeber unbeliebt sind. 

Wenig konkrete Regelungen

Weil anzunehmen war, dass auch den von INSOS SG-AI beim Bildungsklub in Auftrag gegebenen Kurse das gleiche Schicksal beschieden wäre, wenn diese während der Arbeitszeit durchgeführt werden würden, wurde vorläufig darauf verzichtet, eine Zusammenarbeit mit dem Bildungsklub aufzugleisen. Stattdessen kam im INSOS Rat, der immer als Erster einbezogen wird, wenn es um Fragen der Umsetzung des UN-BRK-Aktionsplans geht, die Frage auf, was denn zum Thema Weiterbildung während der Arbeitszeit überhaupt in ihren Arbeitsverträgen bzw. in den entsprechenden Personaleglementen steht. Die Mitglieder begannen, die sie betreffenden Reglemente aus dem eigenen Betrieb zu beschaffen und sie miteinander zu vergleichen. Fazit der noch immer laufenden Arbeit: Es gibt – Irrtum vorbehalten – fast nirgends konkrete Regelungen, wie mit dem Thema Weiterbildung während der Arbeitszeit umgegangen wird. Entweder fehlt das Thema überhaupt oder die Formulierungen sind oft vage. Es gibt also in der Regel keine Ansprüche oder Rechte, die daraus abgeleitet werden können. In der Praxis wird der Umgang mit dem Thema Weiterbildung dann sehr individuell gehandhabt – die einen Organisationen sind großzügiger, die andern weniger. 

Spürbare Zurückhaltung

Das erstaunt insofern nicht, als auch im ersten Arbeitsmarkt der Umgang mit dem Thema Weitertbildung sehr unterschiedlich ist: Da das Recht auf Weiterbildung im Arbeitsrecht gesetzlich nicht verankert ist, entscheiden die Haltung und die Unternehmenskultur eines Betriebs darüber, wie das Potenzial der Arbeitnehmenden gefördert wird. Dem Risiko, besser qualifizierte Mitarbeitende an einen anderen Betrieb zu verlieren, steht die Aussicht gegenüber, diese an den Betrieb zu binden, indem sie ihnen Aufstiegsmöglichkeiten oder neue, anspruchsvollere Aufgaben eröffnen. Das Dilemma, besser qualifizierte Mitarbeitende unter Umständen an die „Konkurrenz“ zu verlieren, sprich an den ersten Arbeitsmarkt, wird auch in unserer Branche genannt, um die Zurückhaltung bez. dem Umgang mit dem Thema Weiterbildung zu begründen. Im Einzelfall werden sehr wohl (bezahlte) Weiterbildungsmassnahmen während der Arbeitszeit ermöglicht. Voraussetzung ist aber in der Regel, dass es sich um eine berufsspezifische Weiterbildung handelt. Da die allgemeine Erwachsenenbildung für die meisten in den Bereich Freizeit gehört, verengt sich der Fokus auf die berufliche Weiterbildung, was aus Sicht der Arbeitgebenden nachvollziehbar ist, aber den Bedürfnissen der Klient:innen nicht Rechnung trägt. Nicht in Betracht gezogen werden dabei die Erschwernisse, mit denen sie es zu tun haben: Eingeschränkte Mobilität, fehlende Energieressourcen am Abend, Bedürfnis nach Kontakt mit den Angehörigen, was am Wochenende befriedigt werden muss und damit auf Kosten der Bildung geht. Ebenso scheint manchmal ein Blick dafür zu fehlen, dass es nicht nur um die Förderung einzelner Personen gehen darf, sondern dass alle Klient:innen grundsätzlich ein Recht auf die Entwicklung ihres Potenzials haben. 

Darf das Recht auf Bildung nichts kosten?

Im Artikel 24 der UN-BRK, Absatz 5, steht: „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben. Zu diesem Zweck stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden.“ Der Bund bzw. die Kantone stehen damit in der Pflicht, entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Bezogen auf unsere Branche muss das heissen, dass für Rahmenbedingungen gesorgt werden muss, dass die Organisationen ihrerseits ihre Pflicht wahrnehmen können, ihre Mitarbeitenden bestmöglich zu fördern. 
Erfreulich ist, dass bei der Überarbeitung der Qualitätsrichtlinien der SODK Ost+ZH, die im September 2023 verabschiedet wurden, die Anforderungen der UN-BRK berücksichtigt werden und in der Einleitung explizit – und das ist neu – zweimal die „persönliche und berufliche Weiterbildung“ erwähnt wird. Leider werden aber in der Fussnote gleichzeitig alle finanziellen Konsequenzen abgewehrt: „Es entstehen dadurch jedoch keine grundlegend neuen Anforderungen und deshalb auch keine Mehrkosten“. 

Strukturen müssen angepasst werden

Im Kanton SG steht die Überarbeitung der Basisqualität noch aus. Den Kantonen steht die Möglichkeit offen, über die in den Qualitätsrichtlinien der SODK Ost+ZH formulierten Mindeststandards hinauszugehen. Der Verband wird sich dafür einsetzen, „Nägel mit Köpfen“ zu machen, denn schon im UN-BRK-Aktionsplan steht einleitend: „INSOS SG-AI geht davon aus, dass sich die Grundhaltung (Selbstbestimmung, Partizipation, Teilhabe, Inklusion, Gleichberechtigung) in den Strukturen niederschlagen muss. Er unterstützt demzufolge die Mitglieder bei der Umsetzung der UN-BRK, indem er teilhabeförderliche Rahmenbedingungen schafft.“ Bei ganz vielen Zielen war schon bei der Erarbeitung des UN-BRK-Aktionsplans klar, dass sich bei vielen Anforderungen nur etwas ändern wird, wenn sich die UN-BRK direkt in den Qualitätsansprüchen widerspiegelt. Dass der Kanton SG dafür offen ist, lässt sich daran ablesen, dass im Planungsbericht 2021-2023 explizit das Ziel Bildung und Beratung (7.1.4) und insbesondere Massnahme 2 («Der Kanton erarbeitet mit dem Branchenverband konzeptionelle Grundlagen, um diese Bereiche noch besser in das Gesamtpaket der Leistungen zu integrieren») formuliert wurde. Da die Gesetzesrevision beim Amt für Soziales bekanntermassen schon länger sehr viele Ressourcen bindet, wurde das gesetzte Ziel in den letzten drei Jahren nicht umgesetzt und wird auch im Entwurf des neuen Planungsberichts nicht aufgegriffen. Empfehlenswert wäre, wenn im Rahmen der Anpassung der Q-Richtlinien immerhin über die nötigen Anpassungen der Strukturen nachgedacht und erste Schritte in Richtung konkrete Lösungen gemacht werden könnten, denn bis zur Umsetzung eines entsprechenden Gesetzesnachtrags im Bereich Arbeit gehen im Minimum fünf Jahre ins Land - fünf kostbare Jahre aus Sicht der Betroffenen. 

Interne Förderung der Weiterbildung

Das Thema betrifft nicht nur die Betriebe in den beiden Kantonen SG und AI: Auch INSOS CH beurteilt die Situation ähnlich und empfiehlt den Integrationsbetrieben, in den Personalreglementen und Arbeitsverträgen die Weiterbildungsmöglichkeiten für ihre Mitarbeiter:innen mit Unterstützungsbedarf zu regeln. Dabei sollen die gleichen Massstäbe gelten wie in der übrigen Arbeitswelt. Unterstützung kann angeboten werden in Form von:

  • die Kursdauer als Arbeitszeit anrechnen oder durch bezahlten Urlaub ausgleichen
  • die Kurskosten sowie die Reise- und Verpflegungsspesen und Übernachtungskosten übernehmen
  • dafür sorgen, dass der individuelle Unterstützungsbedarf gewährleistet werden kann
  • in Vereinbarungen festlegen, dass sich die Mitarbeitenden verpflichten, einen definierten Anteil zurückzuzahlen, wenn sie den Betrieb vor Ablauf einer bestimmten Dauer verlassen.